Kinderbuch | Vita Sackville-West: Eine Frau von Geist
Puppenhäuser, putzige Nachbildungen von Wohnungen oder ganzen Häusern im Kleinformformat, übernahmen schon vor Hunderten von Jahren eine erzieherische Aufgabe: Mädchen sollten spielerisch auf ihre spätere Rolle als Hausfrau vorbereitet werden. Die englische Schriftstellerin und Gartengestalterin Vita Sackville-West hat sich eine durchaus subversive Puppenhausgeschichte ausgedacht, freut sich ANDREA WANNER.
Maria von Teck war die Ehefrau des britischen Königs George V. und war von 1910 bis 1936 als Queen Mary Königin des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Irland und Kaiserin von Indien. Einer solchen Frau angemessen entwarf Sir Edward Lutyens, einer der namhaftesten Architekten seiner Zeit, 1924 ein Puppenhaus im Maßstab 1:12.
Zum Spielen war es nie gedacht, rund 1500 Personen arbeiteten mit und sorgten dafür, dass in dem kleinen Haus wirklich alles echt war: Das Grammophon spielt wirklich Musik, die Fahrstühle bewegen sich, der Wein in den winzigen Flaschen ist echter Wein. Die Minibücher in der Bibliothek wurden extra für das Puppenhaus geschrieben – 171 Autoren der Zeit wie Thomas Hardy oder Rudyard Kipling wurden um einen exklusiven Beitrag gebeten. Und ein weiteres kleines Buch ist dort zu finden …
Der Mode der 30er Jahre und den technischen Errungenschaften wurde bis ins kleinste Detail Rechnung getragen, es gibt elektrisches Licht und fließend Wasser. Sogar die Automobile in der Garage des Puppenhauses wurden von Experten gefertigt: teils von professionellen Modellbauern, teils von den Automobilfirmen selbst.
Und jetzt kommt Vita Sackville-West und bevölkert das Puppenhaus mit einer »Frau von Geist«. Spielen, wie gesagt, darf damit niemand. Es ist zum Anschauen gedacht, ausgestellt und wer es in Windsor Castle sehen will, muss sich in eine lange Schlange staunender Bewunderer einreihen.
Alles sieht so echt aus, von den winzigen Porzellantassen bis zu den Ritterrüstungen im Treppenhaus. Zu gerne würde man selbst durch das Schloss schlendern, sich alles genau anschauen, die Dinge in die Hand nehmen, von Raum zu Raum streifen, sich auf einen samtenen Sessel setzen oder eines der Betten mit Baldachin ausprobieren.
Es gibt jemanden, der genau das tut, sich von dem köstlichen Wein einschenkt, sich ein Schaumbad einlässt, die Bücher liest, den Aufzug benutzt. Es ist das Puppenhaus-Gespenst, eine quicklebendige, zeitreisende Elfe, die eine Hauptrolle in zahllosen Märchen spielt, und nun den ebenso ungewohnten wie ihr rätselhaften Luxus unbekannter Dinge genießt. Nacht für Nacht ist sie unterwegs, kühn, neugierig und unerschrocken. Ein zartes Wesen, das sich der jeweiligen Mode seiner Zeit anzupassen weiß und die »Goldenen« Zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts mit raffiniertem Chic, selbstbewusst Bein zeigend verkörpert und mit Bubikopf und dabei sehr lebendig und kein bisschen geisterhaft wirkt.
Natürlich geben die Spuren, die ihre nächtlichen Eskapaden hinterlassen, den Menschen, die sich um das Puppenhaus bei Tag kümmern und es instand halten, Rätsel auf. Es gehört zum Wesen von Gespenstern, Elfen, Feen, dass sie für Normalsterbliche unsichtbar bleiben. So erzählt Vita Sackville-West ein bezauberndes Märchen voller Charme, Leichtigkeit und Augenzwinkern.
Kate Baylay spielt in den grazilen Illustrationen im Stil des Art déco mit den unterschiedlichen Größenverhältnissen und Realitäten und schafft zusätzlich zum Text einen eigenen, faszinierenden Zauber. Märchenhaft ist alles an dieser kleinen bibliophilen Kostbarkeit: der blassgrüne Leineneinband mit goldenen Ornamenten. Das Vorsatzpapier mit den stilisierten Lilien. Die detailreichen Bilder in zurückgenommenen Farben. Und die Geschichte, die die Autorin tatsächlich 1924 für Königin Mary erfunden hat und die ihren Platz in der Bibliothek des Puppenhauses gefunden hat.
Titelangaben
Vita Sackville-West: Eine Frau von Geist.
Der geheimnisvolle Zauber des Puppenhauses von Königin Mary
(A Note of Explanation. A Little Tale of Secrets and Enchantment from Queen Mary’s Dolls‘ House, 2017)
Illustriert von Kate Baylay. Nachwort von Matthew Dennison
Aus dem Englischen von Isabelle Fuchs
Hildesheim: Gerstenberg 2018
60 Seiten, 26 Euro
Für alle (ab 8 Jahren)