/

Chronist des alltäglichen Wahnsinns

Menschen | Zum Tod des Georg-Büchner-Preisträgers Wilhelm Genazino

  
Er war ein stilistisch hochbegabter Außenseiter, der erst spät den Durchbruch geschafft hat. Wilhelm Genazino hat die melancholischen, zum Selbstmitleid neigenden Flaneure in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur salonfähig gemacht. Immer etwas neurotisch, dem Wahnsinn nahe, aber höchst empfindsam, so schickte er seine zumeist ziemlich biederen Alltags-Protagonisten durch seine leicht elegischen Romane. Von PETER MOHR

»Viele verborgen lebende Menschen liefen umher und suchten etwas, fanden aber nur wenig oder nichts“, hieß es in Genazinos letztem Roman ›Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze‹ (2018), und er bewegte sich darin wieder auf den bewährten Pfaden des »alltäglichen Wahnsinns« und funkte auf der gleichen emotionalen Frequenz wie in den  Vorgängerwerken.

Wilhelm Genazino passte eigentlich überhaupt nicht in den immer schnelllebigeren Literaturbetrieb – als zurückhaltender, den leisen Tönen zugewandter Zeitgenosse ebenso wenig wie seine unkonventionellen, allen literarischen Moden zuwider laufenden fragilen Romane.

»Ich weiß selber keinen richtigen Grund dafür, warum ich nun Erfolg habe«, bekannte Wilhelm Genazino in einem Interview im Sommer 2004. Er schrieb seit mehr als dreißig Jahren konstant auf hohem Niveau, erntete stets anerkennende Kritiken, doch bis vor wenigen Jahren wurden die Restauflagen seiner Bücher nicht selten auf den Wühltischen verramscht. Dieses finanzielle Risiko wollte der Rowohlt Verlag, der 20 Jahre lang Genazinos Bücher publizierte, nicht länger tragen und ließ den Autor zum Carl Hanser Verlag ziehen.

»Man kann alles Mögliche vermuten, etwa, dass das Fernsehen dafür verantwortlich ist«, lag Genazino mit seinem Erklärungsversuch für den plötzlichen Erfolg wohl nicht falsch. 2001 hatte das ›Literarische Quartett‹ im ZDF seinen Roman ›Ein Regenschirm für einen Tag‹ hoch gelobt, und danach ging es mit der öffentlichen Anerkennung und den Verkaufszahlen steil bergauf.

2003 erhielt er den Berliner Fontane-Preis, ein Jahr später die wichtigste literarische Auszeichnung im deutschsprachigen Raum, den Georg-Büchner-Preis, 2007 folgte noch der Kleist-Preis.
»Es ist wie ein konventioneller, langsamer bürgerlicher Aufstieg«, erklärte der am 22. Januar 1943 in Mannheim geborene Autor die wundersame Wandlung. Nach dem Abitur und einem Volontariat bei der Rhein-Neckar-Zeitung studierte Genazino Germanistik, Philosophie und Soziologie in Frankfurt, war einige Jahre als Redakteur für die Satirezeitschrift ›Pardon‹ tätig, ehe er sich ganz der Literatur widmete und zunächst als Hörspielautor reüssierte.

Seine Geburtsstadt Mannheim mit ihren beinahe geometrisch angelegten Innenstadtstraßen, die statt Namen Nummern tragen, hat ihn nachhaltig geprägt, den Blick auf das bisweilen trostlose Leben in den Stadtzentren geschärft.

Flaneure mit besonders gut geschultem Auge waren häufig die Protagonisten in Genazinos stillen, aber sprachlich ausgefeilten Werken mit ihrem charakteristischen Hang zur leichten Melancholie. Von seiner Ende der 1970er Jahre erschienenen Trilogie um den spießigen und untertänigen Angestellten Abschaffel bis hin zum 2016 erschienenen Roman ›Außer uns spricht niemand über uns‹ stehen kauzige Figuren im Mittelpunkt, liebenswerte Verlierer, deren Lebensträume wie Seifenblasen zerplatzten und die sich dennoch mit ihren öden Verhältnissen arrangierten.

Mit Hilfe von Alltagsbanalitäten, die einen leicht absurden Touch tragen (ein Fleck, eine Wimper, ein paar Schuhbänder, ein verlorenes Ohr), zeichnete Genazino mit beinahe fotografischer Präzision Veränderungen nach. Diese subtile »Prosa des Auges« nimmt in ihren Auswüchsen nicht selten kafkaeske Züge an. Genazino, der selbst als Journalist und Hörfunkautor viele Jahre ums materielle Überleben kämpfen musste, hat bei seinen erzählerischen Spagaten zwischen Schmerz, Ironie und Melancholie allerdings nie seine »Loser«-Figuren der Lächerlichkeit preisgegeben. »Man muss sich erst einmal ohnmächtig fühlen, ehe man komisch wirken kann. Man muss in der vollkommenen Totenstarre der Probleme gelebt haben, ehe man über sie lachen kann«, hat Genazino selbst einmal die Lebensverhältnisse seines Romanpersonals beschrieben.

Immer wieder blitzte zwischen den Zeilen auch der unterschätzte Humorist Genazino auf, dem wir auch die herrlich-komische Wortschöpfung ›Liebesblödigkeit‹ (so der Romantitel aus dem Jahr 2005) zu verdanken haben. Der »normale« Alltag wie ein nicht zu bändigender Dramen-Stoff – so erlebten wir auch den »liebesblöden« Radiosprecher aus der »Frauenverwelkungsanstalt« im letzten Genazino-Roman. Wieder einmal anspielungsreiches Erzähl-»Theater« über die großen und kleinen Katastrophen des sozialen Mittelstandes. Am Mittwoch ist Genazino im Alter von 75 Jahren nach kurzer schwerer Krankheit in Frankfurt gestorben. Die deutschsprachige Literatur hat einen herausragenden Stilisten und liebenswerten Einzelgänger verloren.

| PETER MOHR
| Abb: Foto: © JCS‘ / Lizenz: CC-BY-SA-3.0 / GFDL, Frankfurter Buchmesse 2016 – Genazino – Reents 1, crop, CC BY 3.0

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Korn zwischen den Mühlsteinen

Nächster Artikel

Zwei Gedichte

Weitere Artikel der Kategorie »Menschen«

War Gaddafi Existentialist?

Kulturbuch | Charlie Nash: »Gaddafi, Existentialist«

Vor 50 Jahre, am 14. Mai 1973, hielt Muammar al-Gaddafi in Tripolis eine Rede über Existentialismus. Libyen sei daran nicht interessiert, weil man das letzte Geheimnis der Existenz, das auch die Wissenschaft nicht erklären kann, mit Religion beantworte. Der britische Journalist Charlie Nash tritt den Gegenbeweis an. Sein kurioses Büchlein »Gaddafi, Existentialist« entdeckt einen existentialistischen Faden in Leben und Werk des libyschen Revolutionsführers, Despoten, Außenseiters und Visionärs. Eine faszinierende Neuinterpretation – die das schillernde Gaddafi-Enigma durch das Prisma der Philosophie betrachtet. Von SABINE MATTHES

Wie Rauch in den Winden

Roman | Raoul Schrott: Eine Geschichte des Windes

Es ist ein wunderschönes Buch, nicht nur von außen, rundum, nein, auch sein Inhalt, geschrieben über oder aus Sicht eines Mannes, der eigentlich immer im Hintergrund stand, der wenig bekannt ist, dem nie große Beachtung zuteilwurde: Hannes aus Aachen. Und seine unglaubliche Seefahrt-Geschichte beginnt vor 500 Jahren. BARBARA WEGMANN hat das Buch gelesen.

Die Sucht, die nie verging

Menschen | Neue Gedichte zum 85. Geburtstag des Schriftstellers Cees Nooteboom

Der poetische Weltenbummler Cees Nooteboom hat noch einmal eine neue Inspirationsoase gefunden. »Es ist kalt und nicht so angenehm, aber sehr schön, und die Nordsee ist sehr wild. Das war eine wunderbare Atmosphäre«, bekannte der niederländische Autor über die westfriesische Insel Schiermonnikoog. Dort und in seiner Zweitheimat Menorca sind die Verse des neuen Gedichtbandes ›Mönchsauge‹ entstanden. Ein Porträt von PETER MOHR

Ein Augenblick Frieden reicht nicht

Menschen | Leymah Roberta Gbowee: Wir sind die Macht In ihrer Autobiographie Wir sind die Macht schildert die Friedensnobelpreisträgerin Leymah R. Gbowee ihren Weg als Aktivistin in der Friedensbewegung und erzählt ihre einzigartige Geschichte, die uns in den Bann Liberias zieht. Wie sie in ihrem Vorwort deutlich macht, will sie sich von traditionellen Kriegsgeschichten abwenden, die Frauen in den Vordergrund stellen und deren Kriegserfahrungen beschreiben. Von MARITA BÜHRMANN

Einsam, ruhelos und getrieben

Menschen | ›Georg‹: Zum 70. Geburtstag von Barbara Honigmann »Ein sechzigjähriger Mann in einem möblierten Zimmer!« Dieser Satz auf der dritten Seite des neuen Buches von Barbara Honigmann schrillt wie ein Aufschrei durch den Handlungsbeginn. Es klingt nach Verzweiflung, nach Mitleid und Klage aus der Feder, der seit vielen Jahren in Straßburg lebenden Autorin, die am 12. Februar ihren 70. Geburtstag feiert. Von PETER MOHR