Zwei Gedichte

Textfeld | Christian Saalberg: Zwei Gedichte

GESTERN MORGEN PFIFF DER WIND SO, daß ich
Angst hatte, er würde die schlafenden Krieger
Wecken.
Sie wollten nicht mehr leben, wer will das schon.

Auf der Veranda saßen Frauen um einen Tisch
und lasen in einem Buch.
Es handelte von Liebe und Glut.

Die Tür ging auf und eine Ansicht von Turin trat
ein.
Verendete Züge, ein riesiger roter Schornstein,
das Standbild Amors, des einzigen Toten, der
Hier leben darf.

Man sollte das alles einrahmen, ehe es
auseinanderfällt.

 

***

 

WAS ICH VIELLEICHT zu meiner Entschuldigung
anführen kann:

Ich lache gern unter Freunden.

Ich verabschiede mich von allen Geboten, die man
mir aufgezählt hat, mit einem warmen Händedruck.

Ich habe meine Suez-Aktionen verkauft und
hinterlasse auf allen Irrtümern einen Fingerabdruck.

Ich fange die Vögel im Fluge und laß mich
gemächlich durch den Sommer treiben.

Ich meide die Umgebung des Todes.

Ich habe Zutritt zu allen Vorzimmern der Nacht
und atme tief, wenn ich die Fabriken pfeifen höre.

Und ich hinterlasse einige schöne Worte, mit
denen ihr die Friedhöfe in Ordnung bringen könnt.

 

| CHRISTIAN SAALBERG

Christian Saalberg (1926-2006) war zunächst als Rechtsanwalt und Notar tätig. Seit 1992 lebte er als freier Schriftsteller in Kronshagen (Schleswig-Holstein), er war Mitglied im PEN-Club Deutschland und Österreich und erhielt für sein Werk, das mehr als zwanzig Lyrikbände umfasst, diverse Preise und Ehrungen.

Titelangaben
Chrisitan Saalberg: Hier wohnt keiner (2003)
© Viola Rusche
www.christian-saalberg.de

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Chronist des alltäglichen Wahnsinns

Nächster Artikel

Ein außerordentlicher Landschaftsmaler

Weitere Artikel der Kategorie »Lyrik«

Konstanten (3)

Lyrik | Vierzeiler der Woche – von Michael Ebmeyer  Woher wohin woraus worüber wie viel wie weit wie blöd wieso?

In Tuwa / Insektendompteur

Lyrik | Anette Hagemann: Gedichte In Tuwa Zwei Straßen nur führen nach Kysyl, und es reiten dort die Jungen und die Alten einhändig auf den Pferden: Als geschmeidige Zentauren bewegen sie sich durch die Steppe, die so weit ist, wie die Gesänge kehlig klingen und der Blick mancher Augen ins Unabsehbare geht – umgeben von Falten, verschmitzt, wie geschnitzt, genauso wie die Seen hier von Zweigen und Strauchwerk umgeben sind. Und manchmal gurren die Kamelkälber am helllichten Tag wie geschwätzige Uhus und in der Hauptstadt gründen die Schamanen Gemeinschaftspraxen

Völlig inkorrekter Wunsch

Lyrik | Peter Engel: Drei Gedichte

Völlig inkorrekter Wunsch

Mit einem Hauch deines Atems
und mit deiner warmen Hand,
mit der Ausstrahlung deiner Augen
und einem ganz tiefen Blick,
steck mich an mit dir.

Eisblumenzeit

Lyrik | Peter Engel: Gedichte Eisblumenzeit Wie Zitate des Jugendstils erblühten sie über Nacht auf den Stubenscheiben, fein gezeichnete Flora mit einem Flaum aus Kristallen, ganz Bündel von Blüten in einer weißen Landschaft.