Ich war meinen Körper losgeworden

Roman | Ally Klein: Carter

Carter lebt so exzessiv und selbstzerstörerisch, dass sie Menschen aus ihrem Dunstkreis unweigerlich mitreißt, in einen Strudel der Abhängigkeit und Auslöschung. Ally Kleins rätselhafter Debütroman geht an sprachliche Grenzen und verlangt dem Leser nicht nur starke Nerven ab. Von INGEBORG JAISER

Ally Klein: CarterVon dem Moment an, an dem man dieses Buch in die Hand nimmt – ein trügerisches Leichtgewicht mit kaum mehr als 200 Seiten – verströmt es eine vage Ahnung von Düsternis und Beklemmung: ein schlichtes, tiefdunkles Cover, gedrängtes Schriftbild, fast komplette Schmucklosigkeit.

Statt eines Vorworts, einer Widmung nur ein mysteriöses »sic«, eingerahmt von eckigen Klammern. Diese eckigen Klammern werden später noch einmal auftauchen. Als Tattoo, auf den Innenseiten von Carters Handgelenken.

Bier und Schnaps

Doch wer ist Carter? Ein Mann, eine Frau, ein androgynes Wesen? Vielleicht ein Traum, eine Sinnestäuschung? Ganz zu Beginn des Romans werden wir mit Carters Tod konfrontiert. »Die haben sie im Wald gefunden, dreißig, vierzig Kilometer von hier, keine Ahnung, was sie da getrieben hat. Sie war ja weg, und das Nächste, was wir wissen, ist, dass sie dort war.« Freunde werden zur gefundenen Leiche befragt und geben ihr eine Identität. Fast beliebig. »Wir haben uns das Geburtsdatum der Glaubwürdigkeit halber ausgedacht, damit sie sehen, dass wir Carter kennen, Geburtsdatum ist immer so ein Indiz für die. Was weiß ich, wann sie geboren ist, bin froh, wenn ich mich an meinen eigenen Geburtstag erinner, aber beim Namen denkst du dir doch nichts aus.«

Dieser Roman ist eindeutig keine Wohlfühllektüre. Mit Fassungslosigkeit und Irritationen ist zu rechnen.

In schonungsloser Rückschau berichtet die Ich-Erzählerin von den Begegnungen mit Carter. Nach einem abgebrochenen Medizinstudium strandet die namenlose Erzählerin ohne weitere Ambitionen in einem ebenso namenlosen Ort: ein Münster, ein Fluss, weite Felder – keine näheren Koordinaten. Umherschweifendes Herumstreunen führt zufällig zu Carters »Zuhause«, einer verborgenen, düsteren Scheune. Die traumwandlerische, bereits erotisch konnotierte Begegnung hat Folgen: ein furioser Abend im »Alten Casino«, alkoholtrunkene Stunden in Hafen- und Kellerkneipen, sehr viel an Berührungen und nassen Leibern, Bier und Schnaps. Später wird es deutlich handgreiflicher, da geht es aufs Ganze, bis hin zu Schlägereien, Gewaltexzessen, Selbstmord.

Vielleicht geht es genau darum, dich nicht zu begreifen

Jeder Satz, jede Aussage scheint mehrfachen Anlauf zu nehmen, um sich in immer neuen Rekursionen aufzubäumen, wiederholt zu taumeln und zu drehen. Seitenweise wirkt das Beschriebene wie unter Mühen herausgewürgt und emporgeschleudert. Doch die oft lächelnd schweigende, meist mit Schuhebinden und Zigarettendrehen beschäftigte Carter lässt sich kaum einkreisen und erst recht nicht dingfest machen, besonders nicht, was ihre sexuellen Präferenzen angeht. Auch wenn sich eine nebulöse Entourage um ihre charismatische Erscheinung schart, Streuner und Gestrandete mit merkwürdigen Namen wie Pé oder Liop oder – fast biblisch anmutend – Kaan. Der »lief langsamen Schrittes in das Gewusel hinein, während sich das Meer aus Gliedern vor ihm spaltete und hinter ihm wieder zusammenstürzte.«

Ally Kleins Sprache, die das Körperliche in allen Erscheinungsformen durchdekliniert, schwankt zwischen qualvoller Übersensibilität und klinischer Sachlichkeit, lotet alle denkbaren Facetten aus, in sich exaltiert steigernden Schleifen und Loops. Um so schmerzhafter wirken die Momente der puren Entkörperlichung, unter der die Ich-Erzählerin leidet, vielleicht noch im Fiebertraum, vielleicht schon im Wahnsinn. Ihre Einlieferung in die Psychiatrie erscheint als letzte Rettung. »Ich war meinen Körper losgeworden…«

Dieser Roman ist eindeutig keine Wohlfühllektüre. Mit Fassungslosigkeit und Irritationen ist zu rechnen. Genauso, wie Carter aus dem Nichts auftaucht, wirkt auch ihre Schöpferin Ally Klein wie aus einer anderen Welt kommend. Keine Nachweise, keine Spuren im Internet, nur drei dürftige Sätze zu ihrer Biographie auf der Homepage des Literaturverlags Droschl. Wie wortgewaltig aufbäumend ihre Lesungen sein können, durfte man bei den 42. Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt erfahren, als Ally Klein zum ersten Mal eine Passage aus ihrem Romandebüt vorgetragen hat, mit beklemmender Sogwirkung. Ihre Sprache sorgt für Herzrasen.

| INGEBORG JAISER

Titelangaben
Ally Klein: Carter
Graz: Droschl 2018
206 Seiten 20 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Wissen Sie wirklich ›Alles über Liebe‹?

Nächster Artikel

»Eine Woche voller Samstage«

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Retter, Götter, Romantiker

Roman | Annette Mingels: Dieses entsetzliche Glück

Sie heißen Amy und Aiko, Tessa und Tara, Robert und Basil. Dieses entsetzliche Glück ist das unerreichbare Ziel, dem sie unentwegt entgegenhecheln, egal ob sie Bücher schreiben, Häuser verkaufen oder Anthropologie studieren. Annette Mingels hat mit ihrem neuen Buch einen hellsichtigen Episodenroman verfasst, der sich tief in die Befindlichkeiten unserer Gesellschaft gräbt. Für die Lektüre sollte man sich Zeit zu lassen. Von INGEBORG JAISER

Heitere Turbulenzen

Roman | Margriet de Moor: Von Vögeln und Menschen In ihrem jüngsten Roman ›Von Vögeln und Menschen‹ zeigt die niederländische Schriftstellerin Margriet de Moor ein buntes Panorama des menschlichen Miteinanders auf. Von BETTINA GUTIERREZ

Vincent van Gogh und seine Familie

Roman | Willem-Jan Verlinden: Vincents Schwestern

Viel weiß man über Vincent van Gogh, jedoch wenig über seine Schwestern. Mit Hilfe eines Briefwechsels der Geschwister van Gogh veranschaulicht Willem Jan-Verlinden in Vincents Schwestern ihre gemeinsame Geschichte. Von BETTINA GUTIÈRREZ

Der gute Cop sucht nach dem guten Killer

Roman | Scott Thornley: Der gute Killer

Detective Superintendent Iain MacNeice bekommt es in Der gute Killer – dem zweiten ins Deutsche übersetzten Roman des kanadischen Autors Scott Thornley – mit einem Psychopathen zu tun, der seine Opfer nach dem Vorbild bekannter Gemälde arrangiert. Opfer, mit denen niemand Mitleid hat, weil sich der Täter offenbar Zeitgenossen für seine blutigen Arrangements aussucht, die ihm aufgrund ihres sich gegenüber anderen in der Öffentlichkeit äußernden unsympathischen Charakters aufgefallen sind. Als MacNeice endlich hinter das Geheimnis der verwirrenden Tatorte gekommen ist, beginnt der Mörder ein Spiel mit ihm und seinem Team, in dem er hofft, immer das kleine Stück voraus zu sein, welches ihm seiner letzten tödlichen Choreographie näher bringt. Das könnte fast gelingen, denn der Polizist hat sich zur gleichen Zeit noch um den Fall eines ermordeten Kollegen zu kümmern. Und auch der war alles andere als ein Gutmensch. Von DIETMAR JACOBSEN

Eloquenz und Kalauer

Menschen | Zum 80. Geburtstag des kulturellen Tausendsassas Hellmuth Karasek »Manchmal fürchtete ich schon, ich schreib mich in eine Depression hinein«, bekannte Hellmuth Karasek über die Arbeit an seinem 2006 erschienenen Band Süßer Vogel Jugend. Der kulturelle Tausendsassa mit der stark ausgeprägten Affinität zur Selbstironie sprüht aber immer noch vor Tatendrang und hat im letzten Frühjahr unter dem Titel Frauen sind auch nur Männer einen Sammelband mit 83 Glossen aus jüngerer Vergangenheit vorgelegt. Sogar prophetische Züge offenbart Karasek darin, sagte er doch den Niedergang der FDP schon zwei Jahre vor der letzten Bundestagswahl voraus. Von PETER MOHR