Blusenwunder

Comic | Bastien Vivès: Die Bluse

Comic-Künstler Bastien Vivès macht eine Binsenweisheit zum Comic-Stoff. In ›Die Bluse‹ entfacht das titelgebende Kleidungsstück den Sex-Appeal eines Mauerblümchens und macht diesen zum Motor seiner Handlung – ohne den gleichnamigen, bei Reprodukt erschienenen Band zur Sexploitation-Klamotte verkommen zu lassen. Von CHRISTIAN NEUBERT

Die BluseKleider machen Leute: eine Binsenweisheit, die stimmt. Man kann sie, nachdem Kleider ja den Körper bedecken, buchstäblich am eigenen Leib erfahren. So wie Séverine, eine Studentin, die sich als Babysittern etwas dazuverdient. Nachdem ihr Schutzbefohlenes sich über ihr erbricht, bekommt sie eine edle Seidenbluse geliehen. Sie passt ihr wie angegossen, steht ihr sehr gut, setzt ihre üppige Oberweite eindrucksvoll in Szene. Doch das war es noch nicht: ›Die Bluse‹ – sie leiht Bastien Vivès‘ neu in deutscher Sprache erschienenen Comic den Titel – ändert auf einmal alles.

Bisher führte Séverine ein wenig aufregendes Mauerblümchendasein. Die ersten Comic-Seiten vermitteln sehr deutlich, dass ihre Umwelt sie nicht wahrnimmt. Sie wird einfach nicht gesehen und gehört, weder von ihrem Professor an der Uni noch von ihrem Freund, der sich lieber seinen Serien und Computerspielen zuwendet. Mit der Bluse am Leib ist sie jedoch wer, ganz plötzlich. Jemand, dem man Aufmerksamkeit schenkt, begehrende Blicke zuwirft, zuhört und ernst nimmt. Ihre ganze Person scheint aufgewertet, man kennt das Phänomen – und frau bestimmt noch besser.

›Die Bluse‹ legt auch bei Séverine selbst einen Schalter um. Dass ihre Umwelt anders auf sie reagiert, überträgt sich schnell auf sie selbst. Sie wird spontaner, selbstsicherer, freier. Gewinnt zunehmend Selbstvertrauen. Und interagiert entsprechend deutlich offener, souveräner und spielerischer mit den Menschen, die sie umgeben. Auch bei sexuellen Avancen.

Keine Sexklamotte

Lassen da vielleicht die Sexfantasien prominenter Altherren-Zeichner wie Milo Manara grüßen? Ein Stück weit durchaus. Eher noch steht ›Die Bluse‹ aber Polanskis grotesker Komödie ›Che?‹ näher, der man das absurde, traumhaft-naive Element ausgetrieben hat. Der Film stammt aus den frühen 70ern und erzählt von einer jungen Frau, die in einer von skurrilen Personen bevölkerten Villa von einer haarsträubenden Situation in die nächste gerät, wobei sie immer ein Kleidungsstück mehr verliert.

Einen Film wie ›Che?‹ zu drehen scheint heute kaum noch vorstellbar. Für Comics gilt das nicht unbedingt, schon gar nicht hierzulande, wo sie weit unter dem Radar der öffentlichen Wahrnehmung laufen. Wobei man Vivès nicht gerade vorwerfen kann, bei ›Die Bluse‹ auf exploitative Schauwerte zu setzen, obwohl er es sich nicht nehmen lässt, ihre körperlichen Reize durchaus als Bestandteil seiner Geschichte auszuspielen.

Oben ohne?

Gleich der Einband präsentiert Séverine quasi als Pin Up, sexy und dynamisch – und gesichtslos, sie wendet den Lesenden den Rücken zu. Doch reduziert er sie dadurch auf ihren Körper? Nein. Vivès zeichnet kein überholtes – oder besser: diffamierendes – Frauenbild. Séverine hat in dem Band immer die Hosen an – eben, indem sie die Bluse trägt.

Bestimmt kann man Séverines Bluse dergestalt mit den hautengen Kostümen populärer Superhelden vergleichen. Immerhin sind deren Träger ebenfalls wie ausgewechselt, sobald sie parallel mit ihren Outfits gleich andere Identitäten annehmen. Séverines Entwicklungsprozess greift aber tiefer, führt weiter, offenbart Brüche, Sackgassen und Möglichkeiten. Dann etwa, als sie erkennt, dass die Beziehung zu ihrem Freund bereits von Entfremdung gezeichnet ist – was Vivès wie immer in einem leichtfüßigen Nebenher mit reduzierten Strichen und meisterhaftem Gespür für Stimmungen und Bewegungsabläufe inszeniert.

Was bei ihm auf den ersten Blick wie eine Fingerübung aussieht, transportiert ungeheure Ausdruckskraft. Bei Vivès passiert immer enorm viel auf der Bildebene, weswegen er auf der Wortebene seiner Comics stets den Kommentator steckenlassen kann.

Edler Stoff

Noch vor wenigen Jahren wurde Vivès als Wunderkind des französischen Comic-Betriebs gefeiert. Ein Kind ist er inzwischen nicht mehr, doch mit 35 Jahren nach wie vor ein junger Hüpfer unter ähnlich renommierten europäischen Comic-Künstlern. Seine Bände kann man uneingeschränkt empfehlen, ›Die Bluse‹ macht da keine Ausnahme. Obgleich ihm hier nicht der ganz große Wurf gelungen ist wie bei ›Der Geschmack von Chlor‹ oder ›Polina‹.

Die Bluse - Leseprobe
Die Bluse
(Abb. Reprodukt)

Die Güte von ›Die Bluse‹ schmälert das jedoch nur bedingt. Bastien Vivès spielt eben schon sehr früh in einer eigenen Klasse. Dass er dabei nicht ausschließlich bahnbrechende Meisterwerke vorlegt, sondern eben auch einfach mal sehr gute Comics, wird man – gerade auch angesichts seiner Produktivität – mit Vergnügen verkraften.

| CHRISTIAN NEUBERT

Titelangaben
Bastien Vivès: Die Bluse
(Le Chemisier). Aus dem Französischen von Andreas G. Förster
Berlin: Reprodukt 2019
208 Seiten, 24 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Zerstörerisches Doppelleben

Nächster Artikel

Kein Ausweg

Weitere Artikel der Kategorie »Comic«

Die Welt in den Händen einer Comic-Figur

Comic | Naoki Urasawa / Takashi Nagasaki (Co-Szenarist): Billy Bat, Vol. 1 + 2. Die Frage, ob das Schicksal der Menschen von einer höheren Macht gelenkt wird, ist wahrscheinlich so alt wie die Menschheit selbst. Jetzt erzählt Naoki Urasawa von einer sprechenden Fledermaus, die schon seit Urzeiten das Weltgeschehen manipuliert. STEFANIE HÄB hat sich den Übeltäter angesehen und findet: Das hätte schief gehen können. Ist es aber nicht.

Gratis Comic Tag 2016

Comic | Gratis Comic Tag 2016 Einen Feiertag für Comic? Den gibt es! Mit dem »Gratis Comic Tag«! Er findet diesen Samstag statt, also am 14. Mai – bei allen teilnehmenden Händlern. Sein Name ist dabei Programm: Einschlägige Verlage drucken spezielle Verschenk-Exemplare ihrer Erzeugnisse. 17 Verlage sind in diesem Jahr beteiligt, insgesamt winken 34 Gratis-Comic-Hefte.

Sex And The City

Comic | Lydia Frost / Kalonji: In Bed In ihrem Debüt als Comicszenaristin führt Lydia Frost ihre Leser ›In Bed‹ – in die Betten fremdgehender Anhänger der New Yorker High Society. Kalonji findet dafür die passenden Bilder – ohne vor expliziten Details zurückzuschrecken. Von CHRISTIAN NEUBERT

Spaziergang über den Salon

Comic | Internationaler Comic Salon Erlangen 2014   Niemand kann auf dem Comic Salon alle Leute treffen, mit denen er sich gern mal wieder unterhalten würde, niemand innerhalb von vier Tagen alle Veranstaltungsorte besuchen oder an allen Programmpunkten teilnehmen, die ihn interessieren. Trotzdem könnte man ohne Mühe ein gutes Dutzend Artikel schreiben über das, was man an Bemerkenswertem und Kuriosem erlebt hat. Abseits der zentralen Pflichttermine wie der Elefantenrunde der Verlage und der Verleihung der Max-und-Moritz- und der ICOM-Preise hat ANDREAS ALT Seitenblicke auf das Festival geworfen, die etwas von seiner Vielfalt einfangen.

Surreale Superhelden

Comic | Asaf Hanuka (Texte und Zeichnungen): Der Realist, Bd. 1 Es gibt diverse Graphic Novels, die sich mit Israel und der dortigen politischen Kultur auseinandersetzen. Mit der Kriegsstimmung, den religiös-ethnischen Konflikten, der Armut, der Angst, manchmal auch der Paranoia. Nun gesellt sich ein weiterer Comic dazu, nämlich Asaf Hanukas ›Der Realist, Band 1‹. Die in diesem Band versammelten Cartoons stammen ursprünglich aus einer Wochenzeitung und schildern autobiographisch und auf witzige und dezidiert surrealistische Weise den Alltag von Hanuka in Tel Aviv. PHILIP J. DINGELDEY hat sich den Comic angesehen.