Roman | Jaroslav Rudiš: Winterbergs letzte Reise
Die wechselvolle Vergangenheit Mitteleuropas wird zum zentralen Thema von Winterbergs letzter Reise, mal melancholisch grundiert, mal tragikomisch inszeniert. Ein altersschwacher Greis mit manischer Leidenschaft für Geschichte, ein tschechischer Krankenpfleger mit dubiosem Lebenslauf und ein antiquarischer Baedeker aus dem letzten Jahrhundert sind die Ingredienzien von Jaroslav Rudiš erstem Roman in deutscher Sprache. INGEBORG JAISER ist mit dem Finger auf der Landkarte mitgereist.
Wenzel Winterberg war der letzte Straßenbahnfahrer West-Berlins und hat mit seinen 99 Jahren drei Ehefrauen überlebt – und drei Schlaganfälle. Im Hinterzimmer seiner großzügigen Altbauwohnung schlummert eine riesige Modelleisenbahn, Größe H0, die »königliche Spurweite«, erbaut nach den Vorlagen eines Baedekers aus dem Jahre 1913. Zu ihrer Fertigstellung wird es kaum mehr kommen, denn nach dem letzten Schlaganfall liegt Winterberg apathisch und komatös im Bett.
Da wird ihm Jan Kraus an die Seite gestellt, ein privater tschechischer Krankenpfleger und Sterbebegleiter mit zweifelhafter Vita, latenter Raucher und Alkoholiker obendrauf. Etliche Menschen hat Kraus schon bei der »Überfahrt« (wie er es nennt) begleitet, doch unter seiner fürsorglichen Ägide schwingt sich Winterberg zu ungeahnten, neuen Lebenskräften auf. Er hat noch eine letzte Reise anzutreten und dabei soll Kraus ihn begleiten.
Stöpsel raus, Luft raus
So startet das ungleiche Paar eine wahre Tour de Force von Berlin in Richtung Sarajevo – über Böhmen, Pilsen, Linz, Wien, Brünn, Budapest und Zagreb, natürlich mit dem Zug und bewaffnet mit dem Baedeker Oesterreich-Ungarn, Neunundzwanzigste Auflage, Leipzig, 1913 (der letzten Ausgabe vor dem 1. Weltkrieg). Daraus skandiert, zitiert, deklamiert Winterberg unaufhörlich.
Mal herrisch und aufbrausend, wenn er der Meinung ist, sein Gegenüber blicke geschichtlich nicht durch. Mal verwirrt und zerstreut, wenn er einen seiner »historischen Anfälle« erleidet und danach fast kollabiert, erschöpft von zu viel Geschichte und Geschichten. »Stöpsel raus. Luft raus. Augen zu. Gute Nacht.«
The beautiful landscapes of battlefields
Fast schwinden einem allein schon beim Lesen die Sinne, angesichts der Überfülle an geographischen, gastronomischen, geschichtlichen Details. Wenn Winterberg übers verschneite Schlachtfeld von Königgrätz stolpert und mit »the beautiful landscapes of battlefields, cemetaries and ruins« immer wieder einen Engländer zitiert, wenn er auf einer Trauerfeier im tschechischen Outback einen entfernten deutschen Verwandten mimt, glaubt man sich geradewegs in eine tragikomische Schwejkiade versetzt.
Dafür müssen Unmengen an Schnitzel, Knödel und Bier vertilgt werden, um diese Reise durch die ehemalige k.uk.-Monarchie als eine verspätete Hochzeitsreise zu verstehen. Doch nicht nur Winterberg trauert seiner großen Liebe Lenka Morgenstern nach, auch Kraus leidet an der eigenen Vergangenheit. Doch die muss eher geheim bleiben.
Überschienung der Alpen
Der tschechische Autor Jaroslav Rudiš, selbst passionierter Zugfahrer und bekennender Biertrinker, hat mit Winterbergs letzte Reise seinen ersten Roman in deutscher Sprache verfasst, nachdem er bereits als Journalist, Drehbuchautor, Dramatiker und Frontmann der Kafka Band für Furore gesorgt hat. Selbst aus einer Eisenbahnerfamilie stammend, scheint Rudiš das Unterwegssein, die Rastlosigkeit mit der Muttermilch aufgesogen zu haben. Selbstverständlich hat er viele Stationen und Schauplätze seines Romans auch selbst besucht und fotografiert (#winterbergsletztereise). Auf den Vorsatzblättern des Buches kann man das grenzüberschreitende Schienennetz bestaunen.
So ist Winterbergs letzte Reise durch die fast vergessene Historie Mitteleuropas auch eine kommentierte Reise durch die Eisenbahn- und Architekturgeschichte. Beginnend am Berliner Hauptbahnhof (»Ein Königgrätz der Baukunst«) über Leipzig (»Viele der Kopfbahnhöfe gehen in der Geschichte verloren und viele Köpfe auch, unsere Kopflosigkeit wird kein gutes Ende nehmen«) bis Wien (»Das ist kein Bahnhof, das ist ein Einkaufszentrum…«), ganz zu schweigen von der vielfach zitierten »Überschienung der Alpen«. Dieser aberwitzige, tragikomische Reisebericht gehört zu den großen Romanen dieses Jahres, melodisch, sprachgewaltig und rhythmisch, wie unterlegt vom ewigen Schienenrattern und Schnitzelklopfen.
Titelangaben
Jaroslav Rudiš: Winterbergs letzte Reise
München: Luchterhand, 2019
540 Seiten. 24.- Euro
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