Wenn der Alltag Flügel bekommt

Roman | Rachel Ingalls: Mrs. Calibans Geheimnis

Mrs. Caliban, eine verheiratete Hausfrau mit eintönigem Alltag hört Stimmen aus dem Radio, Stimmen, die von einem entlaufenen Monster berichten. Es dauert nicht lange und Dorothy lernt das »unverschämt attraktive Monster« kennen. Rachel Ingalls entführt in eine wunderbar fantasievolle und anrührende Geschichte. Von BARBARA WEGMANN

Ein Buch für jene kalten Tage voller Regen, Schnee und Wolken, grauem Himmel und dem Wunsch nach einer Sofaecke. Ein hinreißendes, viel Herzenswärme spendendes Buch über die Liebe, das Begehren, über das Alleinsein und die Flucht in eine Fantasiewelt. Dorothy und Fred sind ein Ehepaar mittleren Alters, sie leben in ganz normalen Verhältnissen in einem nichtssagenden Ort. Ihr Sohn Scotty stirbt schon als kleiner Junge, »und ein paar Monate später hatte sie dann das Baby verloren.« Schwere Schicksalsschläge also, die zusammen mit »immer gleichen Ritualen« die Ehe ganz allmählich ersticken, zumal Fred auch noch fremdgeht.

Dorothy fühlt sich zunehmend allein gelassen, hört merkwürdige Stimmen im Radio, die mit ihr sprechen und eines Morgens auch diese Meldung: Aus dem Jefferson-Institut für Ozeanografie sei »Aquarius, der Monstermann« entflohen, ein seltsames Wesen, das Forscher von einer Südamerika-Expedition mitgebracht hatten. Bei seiner Flucht soll es zwei Mitarbeiter des Instituts getötet haben, so heißt es. »Die Polizei bittet alle Bewohner der hiesigen Region … nach diesem äußerst gefährlichen Wesen Ausschau zu halten und sich in acht zu nehmen.«

Als Dorothy an diesem Tag nach Hause kommt, hat sie Besuch: »gut zwei Meter groß, froschähnlich stand er da, leicht gebeugt und starrte sie an.« Schwimmhäute an Füßen und Händen, flache Nase, die Silhouette wie die eines »gutgebauten, großen Mannes«, nur war er »sehr dunkel und grün und braun gesprenkelt«, »nirgends ein Haar«, »ungewöhnlich kleine Ohren«. Er heiße Larry, sagte das seltsame Wesen.

Und da beginnt eine liebenswerte Freundschaft und Beziehung, geheim, im Stillen, zögerlich, immer intimer und leidenschaftlicher, aber: Was ist hier noch real und was nicht? »Er trat auf sie zu, zog ihr den Bademantel als, ließ ihn aufs Bett fallen und versuchte ihr das Nachthemd nach unten vom Körper auszuziehen, bemerkte aber schnell, dass man es wohl andersherum machte.« Viel Komik liegt da in der daunenweichen Fantasiewelt, aber eben auch Wehmut und viel Gefühl für Dorothy, schließlich kehrt für sie ein Glücksgefühl zurück, das sie so lange entbehrte. Es sei wie ein Glühen, als »hätte sie etwas gegessen, das nicht aufhörte, sie mit Wärme zu erfüllen ….. endlich lebte sie.« Fiktion oder Realität, egal!

Vieles in dem reizenden Roman dreht sich ganz banal um die Nachbarsfamilie, die alkoholabhängige Freundin, die Leute aus dem Ort, die Kinder, die Männer, die Jobs, den Alltag. Alles läuft seinen Gang, während die »Götterstatue« Larry sich versteckt hält. Niemandem vertraut sich Dorothy an. Ihre Beziehung zu Larry erlebt sie im Geheimen, denn: »Ein Mann mit einem grünen Kopf würde den Leuten auffallen.« Diese Banalität des scheinbar so ereignislosen Alltags einerseits und Dorothys rosarotes Luftschloss andererseits ziehen den Spannungsfaden der attraktiven Geschichte durchaus deutlich an und schließlich entladen sich Frust, Enttäuschung, vergebliche Hoffnungen und jahrelange Lügen am Ende der Geschichte.

Was ist Wahrheit, was Fantasie, wer ist dieses »unverschämt attraktive« Monster, das gerne massenweise Avocados isst, Hausarbeit mag, gerne TV schaut und Musik hört und Dorothys Zuhause bewundert. All das, so erklärt sie ihm, sei wenig wert, »wenn man niemanden habe, mit dem man seine Gefühle teilen kann.« Und so wundert es nicht, dass Fantasie abenteuerliche Pirouetten dreht, es in ihrer Illusion auch durchaus gemeinsame Kinder gibt: »Geboren auf amerikanischer Erde, von einer amerikanischen Mutter – so ein Kind könnte Präsident werden.« Es darf geschmunzelt und geträumt werden …

| BARBARA WEGMANN

Titelangaben
Rachel Ingalls: Mrs. Calibans Geheimnis
Wagenbach Verlag
144 Seiten, 18.- Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Wer sät, der wird staunen

Nächster Artikel

BENELUX-drei auf einen Schlag

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Kein Ort für Gott

Roman | Johannes Groschupf: Die Stunde der Hyänen

Der polnische Fernfahrer Radek Malarczyk hat Glück: Als ein Unbekannter seinen VW Bulli, in dem er seit einiger Zeit auf Berliner Parkplätzen übernachtet, in Brand steckt, gelingt es ihm, gerade noch mit dem Leben davonzukommen. Der Journalistin Jette Geppert erzählt er daraufhin im Unfallkrankenhaus eine Geschichte von Schuld und Sühne. Die junge Frau Anfang 30 steckt selbst gerade mitten in einer Krise. Doch das Angebot der Polizistin Romina Winter, sich ihr anzuvertrauen, schlägt sie vorerst in den Wind. Und währenddessen glaubt ein junger Postbote dazu bestimmt zu sein, dem über die Stadt herrschenden Satan mit Feuer entgegentreten zu müssen. Johannes Groschupfs drittem Berlin-Roman gelingt auf beeindruckende Weise das Porträt einer Stadt, in der die Widersprüche unserer Zeit und unserer Gesellschaft wie nirgendwo anders in Deutschland zutage treten. Von DIETMAR JACOBSEN

Slowaken im Südpazifik

Roman | Michal Hvorecký: Tahiti Utopia

Den slowakischen General Milan R. Štefánik hat es wirklich gegeben. Viele andere der im fünften Roman von Michal Hvorecký auftretenden Personen auch. Was es freilich nicht gab: einen slowakischen Exodus in die Südsee, nach Tahiti. Aber zu verfolgen, wie das kleine, einst zu Österreich-Ungarn gehörende Volk sich quer durch Europa und schließlich zu Schiff über den Atlantik zu neuen Ufern aufmacht, ist hochamüsant und lässt zahlreiche Parallelen zu unserer Gegenwart durchscheinen. Zumal Hvorecký seine genial erfundene Geschichte auch dazu nutzt, mit heute wieder grassierenden nationalistischen Tendenzen in seiner Heimat ins Gericht zu gehen. Von DIETMAR JACOBSEN

Auf dem Weg ins Glück

Roman | Jan Brandts: Tod in Turin »Das viele Geld hat mich satt und träge werden lassen«, heißt es in Jan Brandts stark autobiografisch gefärbtem Band ›Tod in Turin‹. Vor vier Jahren hatte der heute 41-jährige, aus dem ostfriesischen Leer stammende Autor mit seinem gigantischen 900-Seiten-Debütroman ›Gegen die Welt‹ direkt den Sprung in die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft. Es war ein gewaltiger Roman, der den Nerv des Zeitgeistes zu Beginn der 2010er Jahre außergewöhnlich präzise traf, ein Epos mit depressiver Grundstimmung im XXL-Format. Von PETER MOHR

Der Hammer verändert die Welt

Roman | Hansjörg Schertenleib: Jawaka Der abwechselnd in Irland und im Kanton Aargau lebende Schriftsteller Hansjörg Schertenleib hat sich auf völlig neues literarisches Terrain begeben. Der 58-jährige Autor, der zuletzt die von der Kritik hoch gelobten, dem Realismus verpflichteten und in der Gegenwart angesiedelten Romane ›Das Regenorchester‹ (2008), ›Cowboysommer‹ (2010) und ›Wald aus Glas‹ (2012) vorgelegt hatte, gehört zu den renommiertesten Stimmen der Schweizer Gegenwartsliteratur. Nun schickt uns Schertenleib auf ziemlich abenteuerliche Weise in die Zukunft: »Beim Schreiben merkte ich, dass mir die Welt, die ich da entwickelt hatte, viel besser gefällt als die Gegenwart.« – PETER MOHR hat seinen

Der Robin Hood von L.A.

Roman | Ryan Gattis: Safe Vor anderthalb Jahren erregte der in Los Angeles lebende Ryan Gattis (Jahrgang 1987) mit seinem Debütroman In den Straßen die Wut große Aufmerksamkeit. Nun hat er einen zweiten Roman vorgelegt. Wieder ist Gattis Heimatstadt die Kulisse für ein atemberaubendes Gangsterstück. Und ging es in dem Erstling um die 1992er Unruhen nach dem Freispruch für vier Polizisten, die den Afroamerikaner Rodney King ein Jahr vorher nach einer wilden Verfolgungsjagd unverhältnismäßig brutal zusammengeschlagen hatten, so spielen die so genannten »Los Angeles Riots« auch in dem im Krisenjahr 2008 angesiedelten Safe noch eine wichtige Rolle. Eine Rezension von