Die geheimnisvolle 36

Roman | Judith Kuckart: Kein Sturm, nur Wetter

»Ich kenne die Sehnsucht nach dem kleinen Leben, aber auch nach den großen Dingen. Bei wichtigen Gefühlen, auch beim Heimatgefühl, verspürt man solche Zerrissenheit immer«, hatte die gerade 60 Jahre alt gewordene Autorin Judith Kuckart vor sechs Jahren in einem Interview erklärt und damit beinahe schon die innere Zerrissenheit ihrer namenlosen Protagonistin aus dem neuen Roman Kein Sturm, nur Wetter vorweg genommen. Von PETER MOHR

Kein Sturm nur WetterIm Zentrum steht eine promovierte Gehirnforscherin, die in ihrem eigentlichen Beruf nicht wirklich Fuß fasst und aus Angst vor ihren Patienten in ihrem Institut einen Job als wissenschaftliche Schreibkraft annimmt. Sie weiß sehr viel, kann aber aus ihrem theroretischen Wissen keinen praktischen Nutzen für ihr eigenes Leben ziehen. Im Gegenteil – sie hinterfragt, analysiert, reflektiert. Die Holundersaftschorlen-Trinkerin theoretisiert sich rund um die Uhr durchs eigene Gefühlsleben. Ihre Jugendfreundin Nina hat wohl früh gemerkt, dass sie anders »tickt« und riet ihr »Irrenärztin« oder »Tomatenpsychologin« zu werden.

Was für eine Bedeutung hat die geheimnisvolle Zahl 36 im Leben der Protagonistin? Im Alter von 18 Jahren verliebte sie sich in den 36-jährigen Alt-Linken Viktor, als sie selbst 36 war begann ihre Liaison mit dem gleichaltrigen Johann – ein Dramaturg mit wechselnden Engagements. Mit ihm verbindet die Protagonistin den mehr oder minder selbst gewählten beruflichen Abstieg (Johann arbeitet später als Putzmann) und die Angst vor der zweiten Lebenshälfte.

Mit 54 sitzt Judith Kuckarts Hauptfigur am Flughafen Tegel und begegnet einem 36-Jährigen namens Robert Sturm, der (nomen est omen!!) ihre Gefühle noch einmal richtig in Wallung bringt, der wie ein Sturm durch ihren 08/15-Alltag fegt. Sie hat eine Visitenkarte in ihren Besitz gebracht und weiß, dass  er für eine Woche nach Sibirien fliegt, um dort als Experte für Kompressoren an diversen Ölraffinerien arbeitet. Eine Woche später wird die Protagonistin wieder in Tegel auf ihn warten. Mit dieser Szene eröffnet die gebürtige Schwelmerin Judith Kuckart ihren ebenso geheimnisvollen wie tiefgründigen Roman.

Dazwischen wird auf alternierenden Erzählebenen den beiden zuvor gescheiterten Beziehungen sowie der Kindheit und Jugend am Rande des Ruhrgebiets gedacht. Nie sentimental oder gar larmoyant, sondern kühl und sachlich mit unübersehbarer selbstironischer Note. Über allem schwebt die Kardinalfrage des Romans: Was sind Erinnerungen und wo verbergen sie sich in uns?

Gleich zu Beginn des Romans lässt Judith Kuckart ihre Hauptfigur einen profunden Satz eines ihrer Professoren zitieren: »Wir sind, was wir vergessen haben.« Immer wieder werden solche Gedankensplitter eingefügt, die den voran gegangenen Text mit all seinen Problemstellungen in Zweifel zieht und für den Leser eine Art »Richtungswechsel« vorgibt.

Für dieses Buch hat Autorin Judith Kuckart eigens ein Praktikum in der neurologischen Abteilung der Uniklinik Heidelberg absolviert. Theorie und Praxis, wissenschaftliche Erkenntnisse und die eigenen emotionalen Befindlichkeiten der Ich-Erzählerin treffen als unüberwindliche Gegensätze aufeinander. Fragend und auch etwas hilflos bleibt der Leser zurück.

Was ist Glück, was macht eine Beziehung aus und welchen Wert haben gemeinsame Erinnerungen? Was sind überhaupt Erinnerungen, und wo sind sie lokalisiert? Lässt sich dies empirisch fassen, oder sind Erinnerungen sogar etwas absolut Emotionales? Fungiert der Flughafen Tegel als Ort, an dem sich Biografien zufällig kreuzen, an dem umgestiegen und das Ziel gewechselt wird auch als übergroßes Symbol für »verflogene« Erinnerungen?

Judith Kuckart hat glasklare Sätze ohne großes Pathos zwischen die Buchdeckel gezaubert, deren Tiefsinn sich oft erst beim zweiten oder dritten Lesen erschließt, die harmlos-simpel klingen und trotz ihrer Gedankenschwere etwas Federleichtes haben. Eine Frau, die sich zwischen Beruf und gescheiterten Beziehungen aufgerieben hat, zieht eine schmerzhafte Bilanz, die in ihrem Duktus zwischen Naivität und komplexer Intellektualität changiert.

Schon zu Beginn der Handlung heißt es: »Die Männer bleiben sechsunddreißig. Was bleibt sie?« Ein Buch, das den Leser weit über die Lektüre hinaus aufwühlen wird und das fundamentale Fragen aufwirft. Man glaubt, die philosophische Essenz schon von Ernst Bloch (1885-1977) vernommen zu haben: »Ich bin. Aber ich habe micht nicht. Darum werden wir erst.«

| PETER MOHR

Titelangaben
Judith Kuckart: Kein Sturm, nur Wetter
Köln: Dumont Verlag 2019
219 Seiten, 22.- Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Stell dir vor es ist Krieg…

Nächster Artikel

Absurde Klangfundamente und eigenwillige Texte

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Sonderkommission »Käfig«

Roman | Simone Buchholz: Beton Rouge Chastity Riley, Simone Buchholz‘ unangepasste Hamburger Staatsanwältin, ermittelt bereits zum siebten Mal. In ›Beton Rouge‹ landen Manager nackt in Käfigen vor den Türen eines Hamburger Verlagshauses. Ein Mädchen wird totgefahren und in Rileys Freundeskreis, ihrem großen Rückhalt in der Welt, geht es auch nicht mehr ganz so friedlich zu. Als die Spur dann noch in ein bayerisches Elite-Internat führt und Chastity an ihrem neuen Partner Stepanovic mehr zu finden scheint, als sie eigentlich gesucht hat, wird die Sache langsam unübersichtlich. Von DIETMAR JACOBSEN

Das Geheimnis der Tänzerin

Roman | Tanizaki Jun‘ichiro: Die Fußspur Buddhas

Satsuko und Buddha. In Deutschland kaum bekannt, ist Tanizaki Jun’ichirō (der Vorname steht traditionell hinten) einer der berühmtesten Autoren Japans. 119 Bücher hat er geschrieben, über Ästhetik, über Sex, über den Zusammenprall der japanischen mit der westlichen Kultur. Sein Altersroman Die Fußspur Buddhas mit dem Untertitel »Aus dem Tagebuch eines sonderbaren Greises« spiegelt auch die Zeit der 1960er-Jahre wieder. Von GEORG PATZER

Der 100-Millionen-Coup

Roman | Lee Child: Der Ermittler

Die Nachricht sorgte für einige Unruhe. Lee Child will sich nach mehr als 20 Jahren und zwei Dutzend Romanen von seiner Figur Jack Reacher trennen. Da der Ex-Militärpolizist freilich inzwischen an der Schwelle zur Unsterblichkeit steht, soll Childs – der im bürgerlichen Leben den Namen James Grant trägt – Bruder Andrew Grant als Andrew Child Reacher übernehmen und die Saga fortsetzen. Kann das funktionieren? Man wird sehen. Oder auch nicht, sollte der Plan wieder aufgegeben werden. Für seine deutschen Leser wäre das im Übrigen momentan nicht ganz so dramatisch. Denn noch warten drei Reacher-Romane auf ihre hiesige Erstveröffentlichung. Enough time to say Good-bye! Von DIETMAR JACOBSEN

Stille Nacht an der Moldau

Roman | Jaroslav Rudiš: Weihnachten in Prag

Was macht das Christkind an Heiligabend? Wohin treiben all die nächtlichen Gestrandeten in einer Großstadt? Worin verwandeln sich die Geister von Kafka, Hašek und Hrabal? Jaroslav Rudiš´ Weihnachten in Prag ist eine stimmungsvolle Liebeserklärung an die Moldaumetropole und ein modernes Märchen, das anrührt, ohne von falscher Rührseligkeit getrübt zu werden. Von INGEBORG JAISER

Im Land der Spione gehen die Uhren anders

Roman | Mick Herron: Joe Country

Langweilig wird es in der »Slough House« genannten Außenstelle des britischen Inlandsgeheimdienstes nie. Dafür sorgt nicht nur deren ungehobelter Leiter Jackson Lamb, sondern auch die Tatsache, dass immer wieder neue gescheiterte Existenzen in diese »Abteilung für Ausschussware« versetzt werden. Diesmal ist es der von polnischen Exilanten in zweiter Generation abstammende Lech Wicinski. Kinderpornos will man auf seinem Dienst-Laptop gefunden haben, Dateien, von denen er nicht weiß, wo sie hergekommen sind. Ist es nur ein Vorwand, um den wissbegierigen Jungspion kaltzustellen? Während der Mann um die Wiederherstellung seiner Ehre kämpft, bekommen es Lambs Männer und Frauen wieder mit einem alten Feind zu tun und nicht alle von ihnen kommen aus dem kalten, verschneiten Wales zurück, wohin sie von ihm gelockt werden. Von DIETMAR JACOBSEN