Imitiertes Leben

Roman | Deborah Levy: Heim schwimmen

Heim schwimmen, untertauchen, versinken – Deborah Levys neuester Roman, der für den renommierten Man Booker Prize nominiert wurde, spielt mit beunruhigenden Metaphern rund um das Wasser. Eine französische Villa mit Swimmingpool gibt gleichermaßen Schauplatz, Bühne und Tatort ab. Von INGEBORG JAISER
Heim schwimmen
Geradezu filmreif ist das Auftauchen von Kitty Finch: vollkommen nackt, »die Arme von sich gestreckt wie ein Seestern«, die kupferfarbenen Locken wie Seegras ausgebreitet, treibt sie bäuchlings im Pool einer französischen Ferienvilla. Schockiert bleiben die eben eingetroffenen Urlauber auf den heißen Steinplatten stehen: die englische Kriegsberichterstatterin Isabel Jacobs, ihr schriftstellernder Ehemann Joe, ihre pubertierende Tochter Nina, sowie Laura und Mitchell, ein befreundetes Ehepaar, deren Londoner Waffengeschäft kurz vor der Pleite steht. Selbst Jürgen, der kiffende deutsche Hausmeister, ist zu apathisch, um einzugreifen.

Grün lackierte Nägel

Doch keine Sorge, Kitty Finch lebt, und wie! Überzeugend gibt sie sich als Botanikerin aus und kann glaubhaft versichern, außerhalb der Saison kostenlos in der Villa übernachten zu dürfen. Kurzerhand beschließen die zahlenden Feriengäste, ihr eben ein kleines, leerstehendes Zimmer zu überlassen. Dass diese exzentrische junge Frau mit den grün lackierten Nägeln und einem gewissen Hang zum Stottern die nächsten sieben Tage gehörig die britische Feriengesellschaft aufmischen wird, ist fast schon zu erahnen.

So richtig entspannt ist hier keiner. Die abgebrühte TV-Reporterin Isabel, die regelmäßig nach Nordirland, in den Libanon oder nach Kuwait entsandt wird und dann lässig zurückkehrt, »als wäre sie nur mal eben Milch holen gewesen«, setzt sich schon am ersten Urlaubsabend unter einem Vorwand ab. Zu schwierig erscheint es ihr, eine Person zu imitieren, die sie einmal gewesen ist. Ihre vernachlässigte Tochter Nina erlebt die erste Menstruation und reagiert verstört mit Scham und Irritation. Während der übergewichtige Mitchell scheinbar ständig am Herd steht, um fette Leckereien zu brutzeln, wird seine Ehefrau Laura von panischen Ängsten vorm anstehenden Bankrott geplagt. Und der erfolgreiche Dichter Joe kann nirgendwo seine düstere Vergangenheit abschütteln.

Hitze, Schwüle, Wahnsinn

Auch mit Kitty Finch stimmt einiges nicht. In ihrem Zimmer versteckt sie vergammeltes Essen, das sie sich vom Munde abspart. Ihre Vergangenheit liegt nicht in einer biologischen Fakultät, sondern in einer psychiatrischen Klinik in Kent. Und ihre Mutter ist nicht die rechte Hand der Villenbesitzerin, sondern deren Putzfrau. Wen wundert es noch, dass das Zusammentreffen mit den Urlaubsgästen kein zufälliges, sondern ein extra arrangiertes ist? Schon lange verehrt Kitty den bekannten Dichter Joe, dem sie nun ein beklemmendes eigenes Gedicht mit dem Titel Heim schwimmen zur Begutachtung geradezu aufdrängt. Sind sie nicht eigentlich Wesensverwandte?

Verschwimmende Bilder von Hitze und Schwüle, eine unterschwellige Ahnung von Erotik und Wahnsinn, die Allgegenwart von Lügen und Verzweiflung schweben über der gesamten Szenerie. Am Ende der Ferienwoche treibt eine Leiche im Pool. Ist es Mord, Selbstmord oder Unfall? Auf gerade mal 160 Seiten breitet ein suggestives Kammerspiel falsche Fährten und düstere Vermutungen aus. Whodunit?

Selten einmal trifft ein Cover so frappierend den Inhalt eines Buches wie hier das überbelichtete Polaroid von Shooting Star Stefanie Schneider: vage, flirrend, überzogen und fehlfarben. War alles nur ein (Alp-)Traum? Vieles spricht dafür, diese verwirrende Novelle ein zweites oder drittes Mal zu lesen. Es lohnt sich!

| INGEBORG JAISER

Titelangaben
Deborah Levy: Heim schwimmen
Aus dem Englischen von Richard Barth
Berlin: Wagenbach 2013
162 Seiten. 17,90 Euro

Reinschauen
Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Die ganze Welt ist voller Barrieren

Nächster Artikel

»Müssen« müssen

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Memoiren aus der Matratzengruft

Roman | Henning Boëtius: Der weiße Abgrund

Der weiße Abgrund tut sich längst vor dem sterbenskranken Heinrich Heine auf, als er mit versiegenden Kräften seine Autobiographie zu vollenden versucht. Henning Boetius hat den letzten Monaten des im Pariser Exil lebenden Dichters einen brillanten Roman gewidmet, der zur weiteren Heine-Lektüre anregt und nebenbei sehr bestechend den Zeitgeist um 1850 vermittelt. Von INGEBORG JAISER

Blick auf Testosteron-Diktatur

Roman | Helmut Krausser: Freundschaft und Vergeltung

Helmut Kraussers künstlerische Produktivität ist beeindruckend. Der Schach- und Backgammon-Liebhaber, der am 11. Juli seinen 60. Geburtstag feiert(e), hat nun bereits seinen 19 Roman vorlegt. Darüber hinaus hat er äußerst fleißig Erzählungen, Gedichte, Tagebücher, Opernlibretti, Hörspiele und Theaterstücke veröffentlicht. Im letzten Jahr wurde seine Sinfonie in Aue uraufgeführt. Krausser pendelt oft und gern zwischen hohem künstlerischen Anspruch und klischeehaften Vereinfachungen. Von PETER MOHR

Gestörte Entsorgung

Krimi | Wolf Haas: Müll

Wie der Simon Brenner zu Beginn seines neunten Abenteuers unter die Mistler geraten ist, verschweigt Wolf Haas dem Leser. Der ist allerdings schon dankbar, dass es den Brenner überhaupt noch gibt. Denn geschlagene acht Jahre hat er nichts von sich hören lassen. Und auch sein Erfinder (Jahrgang 1960) hat nur auf der Hälfte dieser Zeitspanne, also 2018, mit dem schmalen, autobiographisch inspirierten Roman Junger Mann darauf aufmerksam gemacht, dass es ihn (als Autor) noch gibt. Doch nun: dank des Zusammenspiels von Pandemie und Platzangst im Homeoffice ein neuer Brenner. Und Mistler oder nicht Mistler: Auf den Inhalt kommt es beim Haas eigentlich sowieso kaum an. Anders als beim Brenner, denn: »Für den Brenner das Inhaltliche eigentlich im Vordergrund.« Von DIETMAR JACOBSEN

Gebrochene Lebenswege

Roman | Ulrike Draesner: Die Verwandelten

Gebrochene Lebenswege stehen im Mittelpunkt von Ulrike Draesners neuem Roman Die Verwandelten. Über mehrere Generationen hinweg versucht die 61-jährige Schriftstellerin die biografischen Scherben ihrer weiblichen Figuren wieder zusammenzusetzen und deren wahre Identität zu rekonstruieren.

Kassandra verstummt nicht

Roman | Friedrich Christian Delius: Wenn die Chinesen Rügen kaufen, denkt an mich

»Jedes Buch entsteht aus neuen Fragen, aus neuen Erfahrungen heraus«, hatte Friedrich Christian Delius 2013 in einem Interview über seine eigene Arbeit erklärt. Ein spürbarer politischer Klimawechsel, gewaltige Veränderungen in der Medienlandschaft und handfeste Probleme mit dem Älterwerden sind die zentralen Motive im neuen, etwas sperrigen Erzählwerk des Georg-Büchner-Preisträgers von 2011. Von PETER MOHR