Massenmörder und Bach-Musik

Roman | Leon de Winter: Geronimo

»Er war natürlich nicht nur ein Monster. Er war auch menschlich. Aber das macht es noch schlimmer«, erklärte der niederländische Erfolgsschriftsteller Leon de Winter kürzlich in einem Interview über seine Romanfigur Osama bin Laden. Der 62-jährige Autor hat sich auf das Wagnis eingelassen, ein Stück jüngere Zeitgeschichte umzuschreiben. In seinem neuen Roman Geronimo wird bin Laden im Frühjahr 2011 von den US-Spezialeinheiten nicht erschossen, sondern entführt. Von PETER MOHR

buchcover-geronimo-100_v-gseapremiumxl»Geronimo« – so lautete auch das Codewort der Navy Seals, wenn der furchtbare Terrorist, der Drahtzieher der 9/11-Attentate gefasst wird. Im Mittelpunkt des Romans steht das CIA-Mitglied Tom Johnson. Der Sohn aus gutem Haus mit dem Faible für klassische Musik hat seine Tochter durch das Madrider Attentat verloren und ist in Afghanistan selbst verwundet worden. Er sucht das von den Taliban auf grausamste Weise verstümmelte Mädchen Apana, das die Musik von Johann Sebastian Bach über alles liebte und »mit offenem Mund, die großen blauen Augen aufgerissen« den Klängen folgte. Einst hatte er ihr ein einfaches Keyboard zum Musizieren geschenkt.

Dann ist da noch Jabbar, ein junger Pakistani, der sich in Apana verliebt hat und der in einem Haus unweit von Osama bin Ladens Versteck im pakistanischen Abbottabad lebt. Damit hat Autor Leon de Winter die beiden Handlungsstränge miteinander verknotet.

»Auf dem Kopf trug er einen vorsintflutlichen Helm, eine Art halbierten Lederball mit Ohrenklappen. Auf der Nase eine Brille mit Bifokalgläsern, die seine Augen verzerrten, und um Hals und Kinn einen Schal, der einen Großteil seines Gesichts verbarg.« So getarnt fährt Osama bin Laden auf einem alten Moped durch den Ort, besorgt mal Zigaretten und mal Vanilleeis für eine seiner drei Frauen, mit denen er in seinem Versteck zusammenlebt. Überdies hat er sich geradezu rührend um das verstümmelte Mädchen Apana gekümmert.

Der überaus erfahrene Romancier Leon de Winter, dessen Romane »Der Himmel von Hollywood« (Sönke Wortmann) und »SuperTex« (Jan Schütte) auch erfolgreich verfilmt wurden, arbeitet in seinem neuen, überaus mutigen Roman mit krassen Gegensätzen. Den beinahe animalisch anmutenden Verbrechen setzt er als Gegenpol die klassische Musik Bachs entgegen, die – allen kulturellen Gegensätzen trotzend – hier eine geradezu harmonisierend-therapeutische Wirkung verströmt. Kann das funktionieren? Oder wird hier die künstlerisch-dichterische Freiheit übertrieben spektakulär ausgereizt?

Auch das von de Winter gezeichnete Osama bin Laden-Bild wirkt alles andere als überzeugend. Der kettenrauchende, in die Jahre kommende Lüstling, der auf einem alten Moped durch die Nacht knattert, verharmlost die reale Gestalt auf bedenkliche Art und Weise. Es drängt sich die Vermutung auf, dass im Hinterkopf des Autors parallel schon ein Filmdrehbuch mitlief. In diesen Kontext würde auch die in der zweiten Romanhälfte inszenierte Jagd auf einen USB-Stick passen, auf dem Osama bin Laden brisante Aufzeichnungen über Barak Obama gesammelt haben soll.

Da ist vieles doch allzu filmreif arrangiert, der vermeintlich schlummernde »gute Kern« im Innern des Monster-Terroristen, der in Apana – ebenso wie Tom Johnson – eine Art Ersatz-Tochter sieht, und auch die übersinnlich anmutenden Kräfte, die von Bachs »Goldberg-Variationen« ausgehen: Leon de de Winters politischer Mut verwandelte sich zusehends in dichterischen Übermut. »Sie wusste von dem Moment an, dass Schönheit schmerzte, weil ihre Erfahrung endlich war«, beschreibt de Winter die Gefühle der verstümmelten Apana beim Musikhören. Mehr Kitsch geht kaum noch. Diesen Roman von Leon de Winter muss man nicht mögen.

| PETER MOHR

Titelangaben
Leon de Winter: Geronimo
Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers
Zürich: Diogenes Verlag 2016
444 Seiten. 24.- Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| mehr von Leon de Winter in TITEL kulturmagazin

 

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Außer Atem

Nächster Artikel

Sterben nach Zahlen

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Weniger wäre mehr in Koethi Zans Erstlingsroman

Roman | Koethi Zan: danach In Koethi Zans Thriller-Debüt Danach hat eine junge Frau drei Jahre in der Gefangenschaft eines Psychopathen verbracht. Ein Jahrzehnt später soll der Mann vor einen Bewährungsausschuss und eventuell wieder auf freien Fuß kommen, wenn Sarah Farber nicht gegen ihn aussagt. Aber die wagt sich kaum, ihre New Yorker Wohnung zu verlassen, weil sie Angst hat, dass dann alles wieder von vorn beginnt. Von DIETMAR JACOBSEN

Comic-Helden on tour

Roman | Stefan Heuer: Katzen im Sack Katzen im Sack – so lautet der bedeutungsschwangere Titel des Romans von Stefan Heuer. Alles klar. Alles geritzt. Alles voll auf Spur. Denkt man sich und wird bereits auf den ersten Seiten bestätigt. Denn temporeich und mit einer Prise Humor entführt uns der Autor in die ferne, fast exotische Welt der Schausteller und Kirmesbudenbesitzer, der wir längst entwachsen zu sein schienen. Und werden dennoch eingeholt von unseren Kindheitserinnerungen und unserer Fantasie von heimlicher Flucht und Aussteigertum der Jugend. Ein Flashback in die wilden 80er – gelesen von HUBERT HOLZMANN.

Der Roman als Dolmetsch eines russischen Jahrhunderts

Roman | Michail Schischkin: Venushaar Um es gleich vorweg zu sagen: Man muss der DVA sehr dankbar sein, dass sie uns nun mit seinem schon 2005 erschienenen Roman ›Venushaar‹ einen Autor vorstellt, der allein aufgrund dieser 536 Seiten ohne Zweifel zu den literarischen Größen unserer Gegenwart zählt. Von WOLFRAM SCHÜTTE

Überall Zerrissenheit

Roman | Judith Kuckart: Dass man durch Belgien muss auf dem Weg zum Glück »Ich kenne die Sehnsucht nach dem kleinen Leben, aber auch nach den großen Dingen. Bei wichtigen Gefühlen, auch beim Heimatgefühl, verspürt man solche Zerrissenheit immer«, hatte die heute 56-jährige Autorin Judith Kuckart vor zwei Jahren in einem Interview erklärt und damit schon die seelischen »Befindlichkeiten« der meisten Figuren ihres neuen, bereits achten Romans vorweggenommen.Judith Kuckarts Roman Dass man durch Belgien muss auf dem Weg zum Glück rezensiert von PETER MOHR.

Der Vater und das Boot

Roman | Kenzaburo Oe: Der nasse Tod Eigentlich wollte er mit 60 Jahren aufhören zu schreiben, doch kurz vor Erreichen dieser selbst gesetzten Altersgrenze kam ihm der Nobelpreis »dazwischen«. »Kenzaburo Oe hat mit poetischer Kraft eine imaginäre Welt geschaffen, in der Leben und Mythos zu einem erschütternden Bild der Lage des Menschen in der Gegenwart verdichtet werden«, lobte das Nobelkomitee den Preisträger des Jahres 1994. Oe selbst wertete seine Ehrung stets als Auszeichnung für die gesamte japanische Literatur. Von PETER MOHR