/

Dableiben und mitmischen

Essays | Peter Schneider: Denken mit dem eigenen Kopf

»Wer sagt, er habe ich noch nie geirrt, hat viele Gelegenheiten verpasst, klüger zu werden«, heißt es in Peter Schneiders neuem Essayband ›Denken mit dem eigenen Kopf‹. Er mag sich im Laufe seines Lebens auch geirrt haben, klüger ist er auf jeden Fall geworden. Der einstige jugendliche Rebell ist nämlich nicht nur älter, sondern auch weiser geworden. Bedächtig, geradezu altersmilde lesen sich viele jüngere Schriften aus Peter Schneiders leuchtend rotem Band. Von PETER MOHR

Schneider - DenkenIn den 1960er Jahren gehörte er nicht nur als Redenschreiber zum Wahlkampfteam von Willy Brandt, sondern er war auch eine der lautstärksten und einflussreichsten Stimmen in der Berliner Studentenbewegung. Er blickt heute unsentimental auf die wilde »68er-Zeit« zurück, räumt aber ein, dass sie äußerst wichtig war für das politische Bewusstsein in der Bundesrepublik, weil sie es geschafft hat, »diese Gesellschaft durchzurütteln und durchzuschütteln. Denn das musste einfach sein nach diesem unglaublichen Zivilisationsbruch, den das ›Dritte Reich‹ nun einmal dargestellt hat.«

Als er sich 1973 in Berlin als Studienreferendar bewarb, wurde der »Verfassungsfeind« für den Staatsdienst abgelehnt. Das Urteil wurde zwar drei Jahre später aufgehoben, doch da hatte Schneider längst keine Ambitionen mehr, in den Schuldienst einzutreten. Seine Erzählung ›Lenz‹, eine mit großer Leidenschaft verfasste literarische Bilanz der »wilden Jahre«, hatte ihm 1973 den schriftstellerischen Durchbruch beschert. 2008 hat er in dem Band ›Rebellion und Wahn‹, in dem er auf seine Tagebücher der Jahre 1967/68 zurückgegriffen hat, noch einmal eine kritische Bestandsaufnahme dieser turbulenten Jahre vorgenommen.

Peter Schneider, der am 21. April vor 80 Jahren in Lübeck als Sohn eines Kapellmeisters und Dirigenten geboren wurde, war stets ein politisch-engagierter Autor, ohne sich allerdings ideologisch vereinnahmen zu lassen. Mit seiner Erzählung ›Mauerspringer‹ (1982) nahm er die Ereignisse aus dem Herbst des Jahres 1989 vorweg, und sein schmaler Band ›Vati‹ (1986), in dem er den Lebensweg des KZ-Arztes Mengele rekonstruierte, löste damals eine heftige, vom ›Spiegel‹ initiierte Plagiatsdiskussion aus. Schneider, der Filmdrehbücher, Essays, Kolumnen und Theaterstücke verfasste, ist immer ein wenig gegen den Strom des politischen Zeitgeistes geschwommen. Nach den wenig spektakulären Romanen ›Paarungen‹ (1992) und ›Eduards Heimkehr‹ (1999) folgte 2005 der flott erzählte Aufsteigerroman ›Skylla‹, in dem ein Alt-68er, der später als Scheidungsanwalt Karriere machte, im Mittelpunkt steht.

Schneider - VivaldiIm letzten Jahr präsentierte uns Peter Schneider noch einmal eine völlig neue literarische Facette – ein Meisterwerk der literarischen Biografie. In ›Vivaldi und seine Töchter‹ erzählt er so ungezwungen wie noch nie über den großen italienischen Komponisten, der gleichermaßen umtriebig wie ungeduldig war, der jeden Monat eine Oper oder ein Konzert schreiben wollte und der mit 15 Jahren bereits zum Priester geweiht worden war. Diese Romanbiografie liefert eine harmonische Mischung aus Fakten und Imagination, ein Genre, das Peter Härtling und Dieter Kühn einst in der Nachkriegsliteratur salonfähig gemacht haben. Ein Buch mit viel Liebe zum Detail, mit einem Höchstmaß an Einfühlungsvermögen und überdies auch noch ein stimmiges Zeitbild.

46 Jahre liegen zwischen dem Romandebüt »Lenz« und dem Vivaldi-Roman. Und heute erinnern wir uns gern an den letzten Satz von Schneiders autobiografischem Erstling: »Was Lenz denn jetzt tun wolle. ›Dableiben‹, erwiderte Lenz.« Peter Schneider ist da geblieben und hat kräftig mitgemischt – eine wichtige literarische und politische Stimme im letzten halben Jahrhundert.

| PETER MOHR

Titelangaben
Peter Schneider: Denken mit dem eigenen Kopf
Essays
Köln: Kiepenheuer und Witsch Verlag 2020
357 Seiten, 22 Euro
| Leseprobe
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Peter Schneider: Vivaldi und seine Töchter
Roman
Köln: Kiepenheuer und Witsch Verlag 2019
287 Seiten, 20 Euro
| Leseprobe
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Schepper, klapper, rumms!

Nächster Artikel

Eines Tages wieder …

Weitere Artikel der Kategorie »Menschen«

Eine unkoventionelle Hollywood-Diva

Menschen | 85. Geburtstag von Jane Fonda

»Ich bin bereit zu gehen. Wenn du mein Alter erreichst, ist dir sehr bewusst, wie viel deines Lebens du hinter dir und wie viel du noch vor dir hast. Ich sehe es halt realistisch«, hatte kürzlich Schauspielerin Jane Fonda in einem Interview erklärt. Von PETER MOHR

Im Kopf des Henkers

Menschen | Joel F. Harrington: Die Ehre des Scharfrichters Gleich, wie sie heißen, Scharfrichter, Henker, Folterer, in unseren Köpfen entsteht eine bestimmte Vorstellung. Eine düstere Gestalt, das Gesicht oft hinter einer schwarzen Maske versteckt, die im Namen einer unheimlichen Macht eines barbarischen Zeitalters Menschen sinnlos Schreckliches antut. Unsere Vorstellung und die Realität eines Scharfrichterlebens in der frühen Neuzeit aber unterscheiden sich deutlich voneinander. Der US-amerikanische Historiker Joel F. Harrington ist für sein Buch ›Die Ehre des Scharfrichters‹ sozusagen in den Kopf eines Henkers im späten 16. Jahrhundert geschlüpft und kann Überraschendes berichten. Von MAGALI HEISSLER

Erzähler und Zuhörer

Kurzprosa | Uwe Timm: Montaignes Turm »Ich bin überzeugt, dass wir in unserer Seele einen besonderen Teil haben, der einem anderen vorbehalten ist. Dort sehen wir die Idee unserer anderen Hälfte, wir suchen nach dem Vollkommenen im anderen«, erklärte der männliche Protagonist Eschenbach in Uwe Timms letztem Roman Vogelweide (2013). Mit diesem äußerst anspielungsreichen Buch hatte Timm nicht nur einmal mehr seine immense Vielseitigkeit unter Beweis gestellt, sondern den Gipfel seines bisherigen künstlerischen Schaffens erklommen. Jetzt ist sein Essayband Montaignes Turm zu seinem 75. Geburtstag am 30. März erschienen. Von PETER MOHR

Der Kampf mit dem Schreiben ist vorbei

Menschen | Zum Tod des großen amerikanischen Schriftstellers Philip Roth Er war ein Monument der Weltliteratur, gewaltig und mit reichlich Ecken und Kanten, ein Provokateur und Einmischer mit substanzieller Stimme – ein unübersehbarer Monolith. Alljährlich wurde der amerikanische Schriftsteller Philip Roth im Vorfeld der Nobelpreisbekanntgabe als heißer Kandidat gehandelt – zweimal hatte er den National Book Award (u.a. 1959 für seinen Erstling ›Goodbye Columbus‹), dreimal den PEN-Faulkner-Preis und 1998 für ›Amerikanisches Idyll‹ den Pulitzerpreis erhalten. Schon vor sechs Jahren hatte sich Roth von der literarischen Bühne verabschiedet. »Der Kampf mit dem Schreiben ist vorbei«, hatte er auf einen Zettel geschrieben

Die Schöne und das »Biest«

Menschen | zum 95. Geburtstag von Gina Lollobrigida

»Ich habe das Recht, mein Leben bis zum Schluss leben zu dürfen. In meinem Alter verlange ich nur eines: dass sie mich in Frieden sterben lassen! Den Rummel habe ich zu lange mitgemacht! Jetzt meide ich ihn. Deshalb bin ich so gern in Pietrasanta in der Toskana«, hatte die Schauspielerin Gina Lollobrigida erklärt, die vor 15 Jahren noch einmal für ein kräftiges Rascheln im Blätterwald sorgte. Die angekündigte Hochzeit mit dem 34 Jahre jüngeren spanischen Unternehmer Javier Rigau platzte dann aber doch. Von PETER MOHR