Kriminelles und Persönliches

Roman | Ingrid Noll: In Liebe Dein Karl

Stellen Sie sich vor, sie gehen einkaufen und sie hören irgendwo an einem Stand eine Frau erzählen, und zwar derart, dass sie wie gebannt stehen bleiben und irgendwie hoffen, dass sie vor Geschäftsschluss nicht wieder aufhören möge. So in etwa das Gefühl, wenn man die 336 Seiten beginnt. »Geschichten und mehr« steht im Buch. Es müsste heißen: »Geschichten und viel mehr«, meint BARBARA WEGMANN

»Ich werde dafür sorgen, dass Du vor mir stirbst und ich die Lebensversicherung einkassiere.« In einem dieser für Ingrid Nolls Geschichten so typischen Satz liegt aber auch einfach alles: tiefe Bosheit, eiskalte Berechnung, antreibende Rachsucht, kompromisslose Raffgier. Ingrid Noll hat jene Gabe der großen Leichtigkeit, sie erzählt unbeschwert, locker und frisch von der Leber sozusagen, als ginge es um die heiteren Erlebnisse im letzten Urlaub, dabei schleichen sich fast unauffällig und unbemerkt Betrug, Mord, Habgier zwischen die Zeilen, kommt nicht selten der Frust eines ganzen Lebens zum Ausbruch und mündet in… irgendetwas Kriminellem.

»Am nächsten Sonntag bohrte ich mit einem Schaschlikstäbchen feine Löcher in die Markklöße und füllte sie mit winzigen Digitalis-Tabletten«. Der Gatte, der im wahrsten Sinne des Wortes die Erklärung, es seien klitzekleine Oliven und Kapern schluckt, ist begeistert. »Raffiniert!, sagte er. Das war sein letztes Wort.«

Ob es um den »Unhold aus Unna« geht, »Das weiße Hemd der Hure«, oder die Titel-Geschichte, »In Liebe dein Karl«, Ingrid Noll stattet Mord und Rache nicht selten mit Witz und Warmherzigkeit aus. Und nun hier ein Feuerwerk aus boshaften Situationen und irrwitzigen Konstellationen. Ob es das ungeliebte Kind des neuen Partners ist, das in die Tiefkühltruhe fällt – natürlich klappt der Deckel der Truhe zu – oder ein einfacher Lottoschein mit fatalen Folgen, die kurzen Geschichten lesen sich flott, ehrlich gesagt, viel zu flott.

Aber diese attraktive literarische Pralinenschachtel beinhaltet auch Anderes: Ingrid Noll erzählt in vielen kurzen Kapitel von sich selbst, ihrem Leben, verrät, dass sie sich für fertiggestellte Texte mit Blumen belohnt, dass sie gern ausgesehen hätte wie Juliette Gréco, oder dass sie im Louvre in ihrer Jugend Kunstpostkarten »mitgenommen« hat. Sie erzählt von ihren Eltern, dem Gen des hohen Alters und davon, dass sie 1935 in Shanghai geboren wurde, davon, dass sie Angst vor Vergesslichkeit hat, das Altwerden nicht unbedingt rosig sieht und man manchmal das Alter gar nicht erst begreifen kann. »Bei Klassentreffen – etwa ab dem 50. Jahr nach dem Abitur – habe ich stets den Eindruck, mich verlaufen zu haben. Was habe ich unter diesen alten Tanten verloren…«

Seiten, auf denen Ingrid Noll in ihr Privates schauen lässt, sind erzählerisch den Mordgeschichten durchaus ebenbürtig. Ehrlich, selbstkritisch, und manchmal ahnt man, warum sie wie und was schreibt.

Ingrid Noll sah sich als junge Frau zwischen zwei Träumen: »Der eine will mir die Abenteuer des Reisens und Schreibens schenken, des Erfindens meiner eigenen Welt… Der andere ist der Traum einer mächtigen Tradition und bedeutet Kinder haben, eine eigene Familie.« Ingrid Noll hat beides in ihrem Leben erreicht und zusammengeführt.

| BARBARA WEGMANN

Titelangaben
Ingrid Noll: In Liebe Dein Karl
Geschichten und mehr
Zürich: Diogenes Verlag 2020
336 Seiten. 20,99 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Ordnung ist das halbe Leben…

Nächster Artikel

Unter Sündern

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Die Eroberung der Welt

Roman | Tommy Wieringa: Nirwana

Der 58-jährige niederländische Autor Tommy Wieringa ist im deutschsprachigen Raum noch weitestgehend unbekannt. Das dürfte sich jetzt spätestens nach der Veröffentlichung seines Romans Nirwana ändern. Ein Buch, das als subtiler Familienroman, tiefsinnige Gesellschaftsanalyse und tiefer Blick in die Geschichte daherkommt. Nirvana ist als großes Epos des 20. Jahrhunderts angelegt. In seiner Heimat hatte Wieringa mit der Veröffentlichung von Joe Speedboot 2005 den Durchbruch geschafft. Von PETER MOHR

Reiko Himekawas zweiter Fall

Roman | Tetsuya Honda: Stahlblaue Nacht Mit Blutroter Tod hat der S. Fischer Verlag vor Jahresfrist damit begonnen, die in Japan äußerst erfolgreiche Thrillerreihe um Tokios jüngste Polizistin Reiko Himekawa auch deutschen Lesern zugänglich zu machen. Die ersten Reaktionen der Kritik lasen sich verheißungsvoll. Nun liegt mit Stahlblaue Nacht – Der deutsche Titel des nicht aus dem Japanischen, sondern aus dem Englischen übersetzten Romans ist schlichtweg scheußlich! – Band 2 der Serie vor. Er steht seinem Vorgänger weder an Spannung noch an der raffinierten Konstruktion des Erzählten nach. Von DIETMAR JACOBSEN

Leute, chillt ma, echt jetzt!

Roman | Adriana Altaras: Doitscha Was tun, wenn der halbwüchsige Sohn Partisan oder Zionist oder am besten beides werden will? Wenn er sich gleichermaßen befähigt fühlt, die Palästinafrage und die Eurozonenkrise zu lösen? Adriana Altaras beschreibt in ihrem neuen Roman Doitscha eine deutsch-jüdische Familienaufstellung nebst turbulenten Pubertätskämpfen. Von INGEBORG JAISER

Eine Reise ins Nichts

Roman | Michel Houellebecq: Vernichten

Diesmal ist es kein islamistischer Terror, der in Michel Houellebecqs neuestem Roman Vernichten heraufbeschworen wird. Das 600 Seiten starke Buch des »Sehers der Moderne« richtet sich – wie zuletzt auch in Serotonin (2019) – nach innen: diesmal auf den Zerfall der Familie (oder besser gesagt, den vielleicht vergeblichen Versuch, diese zu kitten) und auf den Rückzug des Ichs. Dieser Rückzug des Menschen auf das Private, diese Innenschau wird unterstützt durch die neuesten Apparaturen der medizinischen Diagnose. Es kommt also noch mehr zum Vorschein als der Frust über menschliche Beziehungen. Von HUBERT HOLZMANN

Sonderkommission »Käfig«

Roman | Simone Buchholz: Beton Rouge Chastity Riley, Simone Buchholz‘ unangepasste Hamburger Staatsanwältin, ermittelt bereits zum siebten Mal. In ›Beton Rouge‹ landen Manager nackt in Käfigen vor den Türen eines Hamburger Verlagshauses. Ein Mädchen wird totgefahren und in Rileys Freundeskreis, ihrem großen Rückhalt in der Welt, geht es auch nicht mehr ganz so friedlich zu. Als die Spur dann noch in ein bayerisches Elite-Internat führt und Chastity an ihrem neuen Partner Stepanovic mehr zu finden scheint, als sie eigentlich gesucht hat, wird die Sache langsam unübersichtlich. Von DIETMAR JACOBSEN