Willkommen in der heilen Welt!

Roman | Zoë Beck: Paradise City

Schon Zoë Becks letzter Roman Die Lieferantin (2017) spielte in der Zukunft. In einem düster ausgemalten Post-Brexit-England verdarb darin eine findige Online-Unternehmerin mit revolutionären Bestell- und Vertriebsmethoden der Londoner Unterwelt ihr profitables Drogengeschäft. Das kulminierte letzten Endes in einer Regierungskrise und blutigen Straßenkrawallen. Im Großbritannien der »Lieferantin« Ellie Johnson wimmelte es von gewaltbereiten Nationalisten und in die allgemeine Überwachung jedes Einzelnen war ganz selbstverständlich auch dessen Gesundheit einbezogen. Letztere rückt nun, in Paradise City, noch mehr in den Mittelpunkt. Von DIETMAR JACOBSEN

Berlin ist nur noch ein kleiner, unbedeutender Fleck auf der Landkarte Europas. Die Bundesregierung hat sich längst von der Spree verabschiedet und sitzt nun am Schaumainkai-Ufer in einem zur Megacity mutierten Frankfurt am Main – Macht und Geld sind näher zusammengerückt. Auch sonst hat sich eine Menge verändert in jener Zukunft, in die der neue Roman von Zoë Beck seine Leser mitnimmt. Der Klimawandel hat den Meeresspiegel ansteigen lassen, so dass Nord- und Ostsee nähergerückt sind. Dort, wo früher lebendige Dörfer waren, findet man kaum mehr Menschen. Diejenigen, die die großen Pandemien überlebt haben, wehren sich inzwischen kaum mehr gegen die Rundum-Überwachung durch den Staat. Eine Gesundheits-App samt Belohnungs-Punktesystem sorgt dafür, dass man keine Untersuchung mehr versäumt. Die notwendigen Medikamente werden von Drohnen geliefert. Schwangerschaftsabbrüche sind Normalität geworden und nur das Klonen von Menschen sorgt noch für leichtes Unbehagen.

In dieser Welt lebt die knapp 30-jährige Liina Järvinen. Als Rechercheurin arbeitet sie für die Agentur Gallus, eines der wenigen nichtstaatlichen Nachrichtenportale, die es noch gibt. Während auf den offiziellen Kanälen Fake News produziert werden, um der Bevölkerung eine heile, geordnete und für jeden leicht zu durchschauende Welt vorzugaukeln, hat sich das Gallus-Team einen Ruf als Teil der »Wahrheitspresse« erarbeitet. Allein die Suche nach der Wahrheit ist nicht immer ungefährlich und muss meistens undercover stattfinden. Als Liinas Chef, mit dem sie eine Jugendaffäre wieder hat aufleben lassen, sie gerade in dem Moment, als für eine brisante Story zu recherchieren ist, in die uckermärkische Provinz schickt, muss die junge Frau dennoch schlucken. Denn was soll sie im tristen Berliner Hinterland, wenn es woanders Skandale aufzudecken gilt?

Merkwürdige Todesfälle

Dass es die ernste Besorgnis um ihr Leben war, die Yassin Schiller bewogen hatte, sie mit einem scheinbar nebensächlichen Auftrag in die Uckermark zu schicken, merkt Liina, als sie zurück in Frankfurt ist. Denn da findet sie den Mann, von dem sie ein Kind erwartet, nach einem dubiosen Unfall im Koma liegend. Woran hat er gearbeitet und wessen Interessen ist er dabei in die Quere gekommen? Mit anderen Mitarbeitern der Agentur und einer unangepassten früheren Kollegin macht sich Liina auf, Licht ins Dunkel einer Angelegenheit zu bringen, die so geheim ist, dass der Staatsschutz kein Mittel scheut, sie vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Und auch eine alte Schulfreundin scheint in die Sache verwickelt zu sein: die inzwischen zur Gesundheitsministerin aufgestiegene Simona Arendt. Aber auf welcher Seite steht die taffe, schwer zu durchschauende Politikerin?

Paradise City stellt eine geschickte Mischung aus Science-Fiction und Thriller dar. Der Roman spielt in einer nicht näher datierten Zukunft, behandelt unterm Strich aber Themen, die uns heute Lebenden nur zu vertraut sind und sowohl tagtägliche als auch längerfristige Entscheidungen verlangen. Wie viel wert ist uns unsere Freiheit? Würden wir auf Teile von ihr verzichten, wenn man uns dafür ein optimiertes, von allen drohenden Gefahren befreites Leben anböte? Ist es klug, einer hochentwickelten Technik mehr zu vertrauen als einem lebendigen Gegenüber? Und sind Fake News, die uns in Sicherheit wiegen, nicht besser als beunruhigende Nachrichten aus einer Welt, in der bei Weitem nicht alles in Ordnung ist?

Auf wie viel Freiheit kann man verzichten?

Für Liina endet die Suche nach Yassins Mördern mit einer menschlichen Enttäuschung und ihrem Weggang aus einem Land, in dem technische Perfektion über Humanität gesiegt hat. Da, wo man Menschen, die sich dem allgemeinen Überwachungswahn entziehen wollen, wegsperrt – Schon als Jugendliche hat Liina die Welt der sich dem Staat konsequent verweigernden, so genannten »Parallelen« entdeckt und fühlte sich, da sie selbst von Geburt an herzkrank war, mehr zu ihnen hingezogen als zu jenen Optimierern, die ihr zwar das Leben retteten, dafür aber ihre persönliche Freiheit einschränkten. – möchte die junge Frau nicht weiter leben.

Dass die Vergangenheit, so viel auch in jener schönen neuen Welt dafür getan wird, sie zum Verschwinden zu bringen, dennoch auf beunruhigende Weise weiterexistiert, wird Becks Heldin klar, als sie am Ende des Romans in Rostock-Toitenwinkel auf eine an das fünfte NSU-Opfer Mehmet Turgut – der Verkäufer in einem Dönerimbiss wurde am 25. Februar 2004 ermordet – erinnernde Gedenkplakette stößt.

Viel weiß sie nicht anzufangen mit dem Namen auf dem Metallschild – aber die Erinnerung an ihn ist noch da und es scheint so, als gäbe es auch weiterhin Menschen, für die die Vergangenheit etwas darstellt, aus dem man für die Gegenwart lernen kann.

| DIETMAR JACOBSEN

Titelangaben
Zoë Beck: Paradise City
Berlin: Suhrkamp Verlag 2020
281 Seiten. 16.- Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Selbstverständlich

Nächster Artikel

Mit Händen und Füßen

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Doppeltes Aus

Roman | Jenny Erpenbeck: Kairos

Ein Staat liegt in seinen letzten Zügen, und eine Liebesbeziehung geht in die Brüche. Die Rede ist von der DDR und von einem unkonventionellen Paar, das die 54-jährige Berlinerin Jenny Erpenbeck ins Zentrum ihres neuen Romans gestellt hat. So wie die DDR einst mit großen Ansprüchen angetreten ist, so außergewöhnlich und leicht elitär ist auch die Liaison zwischen dem Schriftsteller Hans (Anfang 50) und der Bühnenbildnerin Katharina (19), deren Vita einige Parallelen zu der ihrer Schöpferin Jenny Erpenbeck aufweist. Von PETER MOHR

Wie alles begann

Roman | Lee Child: Der letzte Befehl Jack Reachers Alleinstellungsmerkmal unter den Thrillerhelden unserer Tage ist seine Unbehaustheit. Irgendwann ist der Ex-Militärpolizist auf der Straße gelandet. Seither beginnt jedes seiner Abenteuer dort und es endet auch da. Weder an Menschen noch an Orte fühlt sich Reacher gebunden. Einzig sein Gerechtigkeitsgefühl dient ihm als moralischer Kompass. Über die Gründe, warum sein Held immer unterwegs ist, hat sich Lee Child bis 2011 ausgeschwiegen. Dann erschien der 16. Jack-Reacher-Roman unter dem Originaltitel The Affair. Den gibt es nun auch auf Deutsch. Und endlich erfährt man, wie alles begann. Von DIETMAR JACOBSEN

Chastity Riley und die rekonvaleszenten Bullen

Roman | Simone Buchholz: River Clyde

Nach ihrem Einsatz in der hoch über Hamburgs Innenstadt gelegenen Bar des River Palace Hotels hat Chastity Riley der Blues gepackt. Aber gerade jetzt ruft sie der Brief eines Glasgower Anwalts nach Schottland. Von hier ist ihr Ururgroßvater Eoin Riley einst nach Amerika aufgebrochen. Und während »die Letzte der Rileys« zwischen verschiedenen Pubs und dem ihr Abenteuer mit seinem melodischen Rauschen begleitenden Fluss Clyde ihrer Vergangenheit begegnet, stellen ein paar gierige Immobilienmakler St. Pauli auf den Kopf und beschäftigen ihre Hamburger Freunde und Bekannten. Aber auch die sind in Gedanken mehr in der Ferne als vor Ort. Von DIETMAR JACOBSEN

Ich merkte mir alles

Roman | Dana von Suffrin: Nochmal von vorne

»Ja, Humor ist natürlich ein Bewältigungsmechanismus, aber auch die einzige Waffe, die ich habe«, hatte die 38-jährige Schriftstellerin Dana von Suffrin kürzlich über ihren neuen Roman erklärt. Für ihren Debütroman Otto (2019), der um einen jüdischen Familienpatriarchen kreiste, war die in München lebende promovierte Historikerin u.a. mit dem Hölderlin-Preis ausgezeichnet worden. Von PETER MOHR

Das Genie als hilfloser Greis

Roman | Peter Härtling: Verdi »Ich hatte nicht vor, eine Biografie zu schreiben. Es ging mir nicht darum, das Leben Verdis zu erzählen, Daten und Werke einzusammeln. Der Untertitel nennt neun Fantasien. Verdi hat nie eine geschrieben. Eine Fantasie folgt Motiven, Stimmungen. Es ist eine dem Alter angemessene Form. Ich nähere mich an Jahren dem Verdi, und ich wünschte mir waghalsig einen Austausch der Erfahrungen«, schreibt Peter Härtling in seiner dem Buch vorangestellten Kopfnote. Der neue Roman ›Verdi‹ – gelesen von PETER MOHR