Irgendwo. Aber am Meer sollte er liegen, der vielfach gepriesene Sehnsuchtsort. Doch wie bereits in seinem Vorgängerroman Am siebten Tag flog ich zurück gönnt der Georg-Büchner- und Kleist-Preisträger Arnold Stadler seinem Ich-Erzähler lediglich den bloßen Blick auf das erträumte Paradies. Könnte das vielleicht sogar beglückender sein als das Erreichen des Ziels? Von INGEBORG JAISER
Hegen wir nicht alle unseren Sehnsuchtsort, eine Zufluchtsmöglichkeit, um den Rückzug antreten, nachzusinnen, die Wunden zu lecken? Ob Irland, Immenstadt – oder gar Ithaka, so wie bei Arnold Stadler, dem Meister der harschen Lokalpoesie und wundersamen Ortsbeschreibungen. Auch wenn sich die Reise ins gelobte Land zuweilen über Umwege und Hindernisse schlängelt, von aberwitzigen Unglücksfällen ausgebremst wird. Oder über Unorte führt, die Sayn heißen können und Tuttlingen, »der Welthauptstadt der Medizintechnik oder von Kannitverstan.«
Zwischen Butterfahrt und Tribunal
Ausgerechnet am Vatertag tritt der Ich-Erzähler sein ganz persönliches Himmelfahrtskommando an. Und Arnold Stadler lässt in Zeiten des schick gewordenen autofiktionalen Erzählens keinen Zweifel daran, wer damit gemeint sein könnte: »Ich war nun fast schon ein alter Mann geworden, der immer noch ›ich‹ sagte.« Dieser gealterte Schriftsteller reist zu den Westerwälder Literaturtagen, um eine »zwischen Butterfahrt, Event und Tribunal« angesiedelte Lesung zu halten, die jedoch gehörig in die Binsen geht.
Besonders der nachfolgende »Talk« (»ein Wort, das noch von meinen Eltern deutsch ausgesprochen und mit der entsprechenden Drüse kombiniert worden wäre und von einem Menschen mit Rechtschreibschwäche immer noch«). Prompt redet sich der Schriftsteller um Kopf und Kragen und gerät zur Persona non grata. Auch wenn er ahnt: »Ich hatte den Verdacht, dass sie auf Schloss Sayn eigentlich Greta Thunberg hatten hören wollen und mir übelnahmen, dass ich nicht Greta Thunberg war, sondern ein weißer Alter, der für alles verantwortlich gemacht werden konnte.«
Subversive Ironie und Selbstzweifel
Übel beschimpft, degradiert und verunglimpft (»Das ist ja das reinste weiße Altmännergeschwätz!«) räumt der Schriftsteller das Feld, reist mit dem Zug gen Heimat, über besagtes Tuttlingen, wo ihn eine fast slapstickhafte Abfolge von Missgeschicken niederzwingt und erst einmal von der ersehnten Flucht gen Ithaka abhält. Die tritt er dann Wochen später an, über Land mit seinem Dacia Duster Diesel. Noch immer die Westerwälder Schimpftiraden im Ohr, denn »sie würden mich zum Unterschichtspöbel rechnen, der sich einen Volvo nicht leisten konnte und der sich nichts machte aus der Abholzung der tropischen Regenwälder.«
Irgendwo. Aber am Meer wäre kein genuiner Stadler-Roman, wenn das Ziel geradewegs erreicht würde. Stattdessen mäandert die Geschichte vergleichsweise handlungsarm zwischen Reflektionen, Assoziationen, Anekdoten und Gedankengängen – die immer wiederkehrenden Motive neu variiert und arrangiert. Mit leiser, aber subversiver Ironie und gelinden Zweifeln blickt der Ich-Erzähler auf eine Welt, die ihm immer sonderbarer vorkommt, ihm, dem bodenständig und ein bisschen abseitig sozialisierten Landbewohner. Die aufgeregte Wokeness der Selbstgerechten verwundert ihn genauso wie hartnäckige Spam-Mails aus dem »Treppenlift-Hörgeräte-Sterbegeldversicherungs-Einbettzimmer-Segment.«
Infinitypool mit Ithakablick
Tragikomisch, eigenwillig und etwas widerspenstig kommt dieser geschickt getarnte Künstler-, Reise- und Heimatlob-Roman daher, der vor einer kritischen Selbstbefragung nicht Halt macht. In schonungsloser Analyse wird zugleich das Zeitgeschehen, der unaufhaltsame Lauf der Welt seziert. »Wann genau ist aus Sex, Drugs & Rock ’n‘ Roll eigentlich Laktoseintoleranz und Veganismus und Helene Fischer geworden?« Arnold Stadler sträubt sich gegen den Mainstream, besinnt sich auf die eigenen Gewährsleute, auf die Anrufung von Hebel, Heidegger, Kavafis. Letztendlich kommt sein gebrochener Held nie weiter als bis zur Insel Lefkada. Hier, mit dem Blick auf Ithaka, ist er endlich wieder mit sich und der Welt und Greta Thunberg versöhnt. »Sie hatte Millionen Follower, ich hatte meine zwei Augen.«
Titelangaben
Arnold Stadler: Irgendwo. Aber am Meer
Frankfurt: Fischer 2023
223 Seiten. 24 Euro
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