Gesellschaft | Frank Niessen: Entmachtet die Ökonomen! Warum die Politik neue Berater braucht
Die universitäre ökonomische Lehre sieht sich nicht erst seit heute heftiger Kritik ausgesetzt. Denn die Öffentlichkeit wundert sich zurecht, dass eine aufwendig situierte Wissenschaft weder in der Lage ist, krisenhaften Tendenzen gegenzusteuern noch die Symptome zuverlässig zu kurieren. Mit dieser Problematik setzt sich Frank Niessen auseinander, ein Ökonom, der nicht in den universitären Betrieb integriert ist, die Verhältnisse von außen betrachtet und zu einem vernichtenden Urteil gelangt. Von WOLF SENFF
Einleitend weist er auf zwei grundlegende Probleme; er fragt nach dem Standort der Ökonomie im Gehege der Wissenschaften. Die Ökonomie werde ihrem Anspruch nicht gerecht, wenn sie sich wie eine Naturwissenschaft orientiere. Sie stehe in einem lebendigen sozialen und politischen Kontext und müsse ihre Forschung und Lehre entsprechend gestalten.
Ignoranz der Ökonomie
Außerdem verweist Niessen auf einen übergreifenden Horizont und gesellt sich anderen Kritikern zu, die darauf hinweisen, dass vor wenigen Tausend Jahren Menschheitsgeschichte eine Weiche falsch gestellt worden sei. Auf den ersten Blick mag das eine ungewöhnliche Dimension sein. Aber Frank Niessen trägt überzeugende Argumente vor.
Er weist u. a. darauf hin, dass über mindestens hundertfünfzigtausend Jahre menschlicher Existenz das Problem der Arbeitslosigkeit für die Menschen nicht existiert habe; erst mit Beginn der Sesshaftigkeit seien Privateigentum und schließlich lohnabhängige Arbeit entstanden. Niessen wirft der an den Universitäten unterrichteten Ökonomie vor, dass sie diese Dimension ausklammere und an eine Neuordnung von Eigentumsverhältnissen keinen Gedanken verschwende.
Der Würgegriff des Zinssystems
Sie versage auf ganzer Linie, indem sie kritiklos den Kapitalismus propagiere. Sie ignoriere die Problematik einer Orientierung an Wachstum, sie trage nichts zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit bei, sie habe die weltweite Schuldenkrise weder vorhersagen können noch erarbeite sie konzeptionelle Gegenmaßnahmen. Die orthodoxe Lehre blende diese unbequemen Realitäten aus und mache sich zum Steigbügelhalter der herrschenden Ordnung.
Niessen beschreibt das Zinssystem als einen »Würgegriff«, der die wachsenden, skandalösen Einkommensunterschiede ursächlich verantworte, und zwar nicht allein, was Individuen betreffe, sondern genauso im Hinblick auf Staaten – was sich in Europa an diversen Beispielen gezeigt habe.
Verschnarchte Eliten
Man kann sich immer nur über die Ignoranz der politischen Eliten und des medialen Mainstream wundern, denn diese Kritik wird seit der Club of Rome-Publikation in den sechziger Jahren beharrlich vorgetragen, doch nichts geschieht, die kapitalistischen Strukturen werden stattdessen mit verblüffender Kaltschnäuzigkeit verfestigt bzw. in globalisierte neoliberale Verhältnisse erweitert.
Auch die Tatsache, dass jahrzehntelang systematisch ein ›Klassenkampf von oben‹ geführt wird, ist keine Neuigkeit. Dennoch scheint es für Politik kein Grund, initiativ zu werden. Es ist deshalb nur folgerichtig, dass in England scheinbar völlig überraschend ein Jeremy Corbyn zum Vorsitzenden von Labour und, gravierender noch, in den USA ein Bernie Sanders zum aussichtsreichen Präsidentschaftskandidaten wird. Die verschnarchten politischen Eliten stehen kurz davor, abgelöst zu werden, und niemand wird ihnen auch nur eine Träne nachweinen.
Zukunftsweisende Themen
Insofern ist es erfreulich, dass Frank Niessen nicht nur die wesentlichen Kritikpunkte an der herrschenden Lehre darstellt, sondern eigene ›Leitlinien für eine neue Wirtschaftswissenschaft‹ ausarbeitet. Auch hier erwartet er grundsätzlich zunächst, dass die Ökonomie unabhängig von Politik und Wirtschaft arbeiten kann und aus öffentlichen Mitteln finanziert wird.
Zentrale Inhalte einer realitäts- wie zukunftsorientierten Ökonomie sollten die Möglichkeit einer Vollbeschäftigung mittels flächendeckender Arbeitszeitverkürzung sowie eine Neuordnung des Geldsystems bilden; außerdem die von ihm ausführlich behandelten Themen weltweite Armut sowie die Zerstörung der natürlichen Umwelt.
Neu gestellte Weichen
Seine Vorschläge sind zweifellos heikel, sie setzen eine international regulierte staatliche Politik voraus. Er plädiert für ein globales Armuts- und Ökologiemanagement, en détail etwa für ein Mindesteinkommen, eine Beschränkung der Nutzung natürlicher Ressourcen etc., und ist sich darüber klar, dass er das formuliert, was wir gemeinhin utopische Forderungen nennen.
Er zeigt jedoch in eine Richtung, die letztlich ›alternativlos‹ sein dürfte, wenn wir denn überleben wollen. Was er außer Acht lässt, ist die gewaltige Veränderung des öffentlichen Denkens, die erforderlich ist, um diesbezüglich Weichen neu zu stellen. Man kann natürlich darauf hinweisen, dass die oben erwähnten Tendenzen in den USA und Großbritannien bereits erste Schritte seien. Aber man vergegenwärtige sich die Hindernisse und Barrikaden, die jetzt schon errichtet werden, und hat eine Ahnung dessen, was uns erwartet.
Titelangaben
Frank Niessen: Entmachtet die Ökonomen! Warum die Politik neue Berater braucht
Marburg: Tectum 2016
168 Seiten, 17,95 Euro
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