Wo ist das Fleisch in der Suppe?

Roman | Sibylle Lewitscharoff: Von oben

Die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff, die im Frühjahr ihren 65. Geburtstag gefeiert hat, ist in den letzten Jahren nicht aus den Schlagzeilen heraus gekommen. Ihr wurden für ihre stets sehr kopflastigen Erzählwerke fast alle wichtigen Literaturpreise im deutschsprachigen Raum verliehen (u.a. 2013 der Georg-Büchner-Preis), und im März 2014 wurde sie nach ihrer mehr als umstrittenen Dresdner Rede im Staatsschauspiel zur Zielscheibe der Kritik. Von PETER MOHR

Pornographie, künstliche Befruchtung, Leihmutterschaft und Abtreibung hatte sie in ihrem Redebeitrag derart unglücklich miteinander vermengt, dass der Berliner Journalist Dirk Knipphals damals (völlig zutreffend) von »einer schrecklichen, menschenverachtenden Tirade« sprach. Die öffentliche Entrüstung war vor fünf Jahren riesengroß, wenn gleich es auch Beifall aus dem national-konservativen Lager gab.

»Das eigene Leben ist das Fleisch in der Suppe. Daran führt kein Weg vorbei, bei jedem Schriftsteller, wobei vollkommen wurscht ist, was er schreibt«, hatte Lewitscharoff einmal ihr eigenes dichterisches Credo beschrieben. In ihrem neuen Roman entführt sie die Leser in eine Art Zwischenreich, eine kühn konstruierte Ebene zwischen dem Berliner Alltag und dem Totenreich. Das eigene Leben als Fleisch in der Suppe lässt sich so allerdings nur als Geschmacksverstärkerkonzentrat erahnen.

Auf genau diesem Territorium bewegt sich die als »Seelenmotte« bezeichnete, bereits verstorbene Hauptfigur. Er schwebt wie ein metaphysischer Beobachter über der Großstadt. Ein Mann, der zu Lebzeiten Philosophieprofessor war und dessen Erinnerungen sich hinter einem Nebelschleier bewegen. Jede Menge Heidegger »geistert« dem Beobachter »von oben« durch den Kopf. Bei dieser erzählerischen Geisterstunde fühlt man sich sogleich an Lewitscharoffs Vorgängerroman Killmousky (2014) erinnert, in dem bekanntlich eine Katze die Hauptfigur war.

Der Protagonist bewegt sich schlafwandlerisch durch den »Berliner Stadtfladen«,  begibt sich durch offene Balkontüren in Wohnungen, beobachtet die Menschen, Fremde wie einstige Freunde. Die so gewonnenen Einblicke in die Welt der Lebenden sind alles andere als friedvoll. Ein junger Mann wird zu Tode geprügelt, eine Frau sucht den Freitod und springt vom Dach eines Hauses. Abgründe tun sich allenthalben auf, er erblickt die kleinen Katastrophen in den Wohnzimmern der ganz »normalen« Mitbürger.

Aber Lewitscharoff geht es um mehr, sie greift wieder zum verbalen Brecheisen, lässt den Geist voller Häme über die Berliner Intellektuellenszene der letzten Jahrzehnte polemisieren. Alle bekommen ihr Fett ab, die Marxisten, die Poststrukturalisten um Derrida und die Gegenwartslyriker (mit Ausnahme von Durs Grünbein).

Das wirkt alles arg konstruiert, gerade so, als habe Lewitscharoff inzwischen großen Spaß an der Polemik, an provozierenden Simplifizierungen im Boulevardstil gefunden. Da ist die Rede von einem »pseudointellektuellen Dummkopf« und »misogynen Trophäensammler«; die eingestreuten Kafka-Befunde des Erzähl-Ichs wirken ebenso flach und wenig substanziell wie der Besuch am Küchentisch der in einem graukarierten Bademantel gekleideten  Angela Merkel.

Der Blick »von oben« soll eine theologisch-philosophische Perspektive eröffnen und zu einem intellektuellen Denkspiel im Konjunktiv animieren. Der Flapsigkeit des Jargons ist es allerdings geschuldet, dass all diese Spitzen und Seitenhiebe, die kleinen und großen Sticheleien, die eher an scharfzüngige Glossen denn an Literatur erinnern, ohne nachhaltige Wirkung am Leser vorbeirauschen.

»Will man sich nicht der komplexen Sinnlosigkeit der Existenz ausliefern, muß es eine Instanz geben, die urteilt und dabei über einen schärferen Blick verfügt, als er uns gegeben ist«, heißt es im Roman. Eine ordnende künstlerische Instanz mit einem weniger verschwommenen Blick und einem weniger radikalen Tonfall hätte diesem Roman fraglos auch gut getan.

Man kann sich des Gefühls nicht erwehren, dass Sibylle Lewitscharoff in den letzten Jahren künstlerisch ein wenig auf der Stelle tritt. »Nicht die Liebe vermag die Toten in Schach zu halten, denke ich, nur ein gutmütig gepflegter Haß«, lautete schon der Schlusssatz ihres 2007 erschienenen Romans Apostoloff.

| PETER MOHR

Titelangaben
Sibylle Lewitscharoff: Von oben
Berlin: Suhrkamp Verlag 2019
240 Seiten, 24.- Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe
| Lesen Sie mehr über Sibylle Lewitscharoff in TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Wyatt und die Raubkunst

Nächster Artikel

Besondere Vögel

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Dem »Milchbrötchen« gefolgt

Roman | Siegfried Lenz: Der Überläufer Knapp zwei Jahre nach dem Tod des bedeutenden Romanciers Siegfried Lenz ist ein bisher unveröffentlichter, 65 Jahre alter Roman ›Der Überläufer‹ aufgetaucht, der in den 1950er Jahren nicht erscheinen durfte und den Lenz später nie erwähnt, aber auch nicht vernichtet hat. Im Nachlass wurde das Schreibmaschinenmanuskript entdeckt und nun von Hoffmann und Campe veröffentlicht. Von jenem Verlag, der Lenz‘ erschütternden Kriegsroman damals abgelehnt hat. Von PETER MOHR

Martilein und Jo

Roman | Zsuzsa Bánk: Schlafen werden wir später Zsuzsa Bánk ist alles andere als eine zeitgeistaffine Vielschreiberin. Jetzt ist ihr neuester Roman ›Schlafen werden wir später‹ erschienen. Von PETER MOHR

Kalt – sonst ohne Eigenschaften

Roman  | Robert Schindel: Der Kalte Robert Schindel legt seinen zweiten druckfrischen Roman Der Kalte vor: ein Monumentalwerk zur Zeitgeschichte Österreichs der Jahre 1985 bis 1989, Jahre der Aufarbeitung der Shoa, aber auch ein Roman, in dem sich Opfer und Täter aufs Neue begegnen. Schindel setzt hier fast 30 Jahre später ein neues Denkmal am und für Heldenplatz – findet HUBERT HOLZMANN.

Zwischen Manie und Melancholie

Roman | Leon Engler: Botanik des Wahnsinns

»Meine Familie hat ein Talent für Verrücktheit«, konstatiert der junge Mann, der sein Leben seziert und mal mit leichter Ironie, mal betont wissenschaftlich analysiert, systematisiert, als sei es eine Botanik des Wahnsinns. Doch wie kann man den familiären Prägungen entkommen, fragt Leon Engler in seinem Debütroman, der auf fantasievolle Weise Fiktion mit Faktenwissen vermengt. Von INGEBORG JAISER

Wenn der Tod im Osten Einzug hält

Roman | Jerome P. Schaefer: Der Dschungel von Budapest

Die Welt an der schönen blauen Donau scheint in Ordnung zu sein. Auf den ersten Blick zumindest. Bei genauem Hinsehen aber regt sich leiser Zweifel an der Idylle in Budapest: Das Wasser des Stroms »glitzert« schon etwas »unruhig«, der Himmel strahlt eisig »kalt blau« und die Margaretheninsel schimmert in der Ferne »fast wie eine Schimäre«. Und mitten in dieser Szenerie, am Rande des Budapest Marathons, finden wir Tamás Livermore. Nicht als teilnehmenden Sportler, nein, der Privatdetektiv hat sich als Sicherheitsmann anstellen lassen und beobachtet, ausgerüstet mit einem Walkie-Talkie, das Geschehen von der anderen Seite des Flusses. Die Störung lässt nicht lange auf sich warten. Eine Autobombe zerreißt das friedliche Bild, »die Kakophonie des Notfalls setzt ein«. In seinem Debüt Der Dschungel von Budapest – erschienen im Berliner Transit-Verlag – gerät Jerome P. Schaefers Privatermittler mitten in ein ziemlich brisantes politisches Räderwerk von dunklen Machenschaften im Ungarn der Nachwendezeit. Gelesen von HUBERT HOLZMANN