Wenn alles zweimal geschieht

Roman | Peter Stamm: Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt

»Schreib eine Geschichte über mich«, lautete der zentrale Satz in Peter Stamms 1998 erschienenem und später verfilmtem Debütroman ›Agnes‹ (1998). Seitdem hat sich der 55-jährige Schweizer Autor immer wieder auf experimentelle Grenzgänge begeben und ein reizvolles Spiel mit der Meta-Literatur inszeniert. Spätestens mit seinem mehr als 100 000mal verkauften Roman ›An einem Tag wie diesem‹ (2006) hat sich Stamm in der ersten Reihe der deutschsprachigen Gegenwartsautoren etabliert. PETER MOHR hat seinen neuen Roman ›Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt‹ gelesen.

Peter Stamm - Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt 350Im Mittelpunkt des neuen Romans steht der nicht mehr ganz junge Schriftsteller Christoph, dem der große Wurf noch nicht gelungen ist und der an seinen eigenen Ansprüchen zu scheitern droht und in eine handfeste Schreibkrise gerät.

Er trifft auf die junge Schauspielerin Lena, die seiner ehemaligen Partnerin Magdalena verblüffend ähnlich sieht und erzählt ihr von seinem Leben. Fast beiläufig plaudert er auch über Magdalena, und es ergeben sich viele Parallelen zum Lebensweg der ungleich jüngeren Lena, die in Stockholm die Hauptrolle in Strindbergs ›Fräulein Julie‹ spielt und deren Freund Chris sich (wie Christoph) auch als Autor versucht.

Man merkt rasch, dass Peter Stamm hier eine doppelte Spiegelung seiner beiden Figuren betreibt. Der Ich-Erzähler imaginiert sich zurück in den jungen Chris, und Schauspielerin Lena wird uns als jüngere Rekonstruktion der Magdalena begleiten. Der alte Christoph verabredet sich mit der jungen Lena auf einem Stockholmer Friedhof. In schaurigem Ambiente offenbart er ihr Details aus ihrem eigenen Leben.

»Wenn alles, was man macht, zweimal geschieht, wenn jede Entscheidung, die man fällt, nicht nur einen selbst betrifft, sondern auch einen anderen, der einem ausgeliefert ist, dann überlegt man besser zweimal, was man tut«, heißt es im Roman, der uns mit einem anspielungsreichen Arrangement zwischen Sein und Schein konfrontiert.

Was ist Realität? Was ist Imagination? Was sind nur Hirngespinste des alternden Autors, die weder in der Realität noch in der Literatur eine adäquate Entsprechung haben?

Der konjunktivische Rückblick auf das eigene Leben in Form der Ich-Verdoppelung liest sich in Stamms Diktion ein klein wenig wie eine Schauergeschichte. Die junge Lena, die quasi ihr eigenes Leben erzählt bekommt, ist keineswegs zufällig strindberg-geschult. Der große schwedische Autor hat bekanntlich in seinem Roman ›Inferno‹ ebenfalls autobiografische Elemente verarbeitet, diese aber literarisch stark verzerrt dargestellt.

Peter Stamm lässt bewusst die Grenzen verschwimmen, der Zauber der Fiktion und die Kraft der Fantasie bestimmen das ICH seiner männlichen Hauptfigur, die ein »Entgleiten der Realität« beklagt. Der erzählte (erinnerte) Gegenentwurf wirkt wie ein deutlich schärferes Abbild des Realen. Aus der zeitlichen Entfernung heran gezoomt, manuell fokussiert und als erzählte Story festgehalten.

Hinter Peter Stamms leicht märchenhafter Doppelgängerinszenierung, die an ETA Hoffmanns ›Die Elexiere des Teufels‹ erinnert, steckt (zumindest latent) auch die Frage, ob man alle Entscheidungen im Leben noch einmal so fällen würde, wenn es eine zweite Chance gäbe.

›Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt‹ ist ein extrem kopflastig-vergeistigtes Stück Prosa. Durchaus reizvoll, aber die einstige Leichtigkeit des Stammschen Erzählens ist hier auf der Strecke geblieben.

| PETER MOHR

Titelangaben
Peter Stamm: Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt
Frankfurt/M.: S. Fischer Verlag 2018
156 Seiten, 20 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe
| Ingeborg Jaiser über Peter Stamm in TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Die Macht der Leisen

Nächster Artikel

Auf der dunklen Seite des Mondes

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Romanze am Rhein

Roman | Hanns-Josef Ortheil: Der Typ ist da Was verbindet Köln mit Venedig? Wieso pilgert ein italienischer Restaurator in den rheinischen Norden? Welche wundersamen Verwandlungen treten ein, wenn man sich in eine Stadt vertieft? Hanns-Josef Ortheil hat eine mystische, spirituell angehauchte Hommage auf seine Geburtsstadt geschrieben und verkündet kurz und knapp: ›Der Typ ist da‹! Von INGEBORG JAISER

Anatomie physischen Grauens

Roman | Paolo Giordano: Der menschliche Körper Jetzt, da Europa zu einer eigentümlichen Insel des Friedens inmitten des Krieges geworden ist, erinnert uns ein junger italienischer Physiker daran, dass es im Leben immer um grundlegende Wahlmöglichkeiten geht, die unsere Existenz nachhaltig beeinflussen. Paolo Giordano erzählt in seinem zweiten Roman Der menschliche Körper vom Schicksal einer Gruppe italienischer Soldaten, die bei ihrem Afghanistan-Einsatz Entscheidungen treffen, die das Leben aller völlig verändern. VIOLA STOCKER wagt sich an die Grenzen des körperlich Erträglichen.

Wahlverwandtschaften am Wattenmeer

Roman | Judith Hermann: Daheim

Mit ihrem aktuellen Roman Daheim bekräftigt die Berliner Autorin Judith Hermann – einst euphorisch als Shooting-Star der neuen deutschen Literatur gefeiert – ihren Ruf als große zeitgenössische Erzählerin. Das Beschwören von traumhaften Zwischenwelten und trügerischen Erinnerungen versetzt den Leser in einen beinahe hypnotischen Zustand. Bis die Falle zuschnappt. Von INGEBORG JAISER

Eingemauert

Roman | Arnaldur Indriðason: Wand des Schweigens

Immer noch nicht hat der pensionierte Kommissar Konráð das Rätsel um den Tod seines Vaters gelöst. Da bringt ihn ein schockierender Leichenfund in einem Reykjavíker Wohnhaus auf die nächste Spur. Handelt es sich bei dem menschlichen Skelett, das man hinter einer Kellerwand entdeckt hat, etwa um den damals blitzschnell vom Tatort verschwundenen Mörder? Konráð beginnt, auf eigene Faust zu ermitteln, denn seine Ex-Kollegen trauen ihm nicht mehr. Und schnell muss er erkennen, dass ein Jahrzehnte alter Fall auch in der Gegenwart noch für reichlich Unruhe sorgen kann. Von DIETMAR JACOBSEN

Karl Marx in Rabat

Roman | Leïla Slimani: Schaut, wie wir tanzen

Schaut, wie wir tanzen führt als zweiter Band Leïla Slimanis große Familientrilogie weiter, in ein Marokko nach der Unabhängigkeit, in eine Ära des Wandels und der Neuorientierung. Aus wechselnden Standpunkten und Erzählperspektiven lernen wir aufbegehrende Frauen, unkonventionelle Beziehungen und eine trügerische Aufbruchsstimmung kennen. Von INGEBORG JAISER