Weil der bekannte schwedische Schriftsteller Franz J. Lunde im Anschluss an eine Lesung spurlos verschwindet, muss Gunnar Barbarotti, der in Kymlinge für die Ermittlungsarbeit zuständig ist, ran. Es ist der siebte Fall für den Nachfolger des genial-vergrübelten Kommissars Van Veeteren im Werk des 71 Jahre alten Håkan Nesser und ein ganz und gar ungewöhnlicher dazu. Denn Lunde hat ein Erzählfragment hinterlassen, in dem angedeutet wird, dass er zuletzt von einer immer wieder auftauchenden Leserin gestalkt und bedroht wurde. Viel Arbeit für Barbarotti, zumal Lunde nicht der einzige verschwundene Literat bleibt und auch im fiktiven Kymlinge die Corona-Pandemie das Leben und Arbeiten zunehmend erschwert. Von DIETMAR JACOBSEN
Gern hätte Gunnar Barbarotti seine Kollegin und Lebensgefährtin Eva Backman, die familiäre Probleme nach Australien führen, begleitet. Aber als nach einer Lesung in Kymlinge der Schriftsteller Franz J. Lunde verschwindet, muss er, weil die Sache in seinem Zuständigkeitsbereich passiert ist, die polizeilichen Ermittlungen übernehmen.
Bald ist klar: Lunde war bereits vor ein paar Jahren monatelang nicht auffindbar. Und er hat seiner Stockholmer Lektorin vor seinem neuerlichen Verschwinden noch ein Erzählfragment geschickt, das autobiographische Anspielungen enthält, die den Autor in ein verdächtiges Licht rücken, weil sie von einer Stalkerin berichten, die auf Lesungen auftaucht und Lunde indirekt beschuldigt, am zwei Jahre zurückliegenden Tod seiner Frau die Schuld zu tragen und das Ganze auch noch literarisch ausgebeutet zu haben.
Von den Rätseln der Menschen und ihren Unzulänglichkeiten
Weil in Kymlinge gerade Bandenkriege eskalieren, will die Polizei den Fall Lunde nicht an die große Glocke hängen. Doch kurz darauf verschwindet nach einer Lesung in derselben Gegend die bekannte Lyrikerin Maria Green. Auch sie wurde, wie hinterlassene Aufzeichnungen dokumentieren, vor ihrem Verschwinden zweimal öffentlich bedroht. Hat sich ein erfolgloser Autor an zwei Kollegen gerächt, die es in der von harter Konkurrenz und gegenseitigem Neid geprägten Welt der Literatur zu etwas gebracht haben? Oder muss man die beiden Fälle getrennt voneinander betrachten?
Auf jeden Fall bleibt Gunnar Barbarotti, selbst wenn ihm von seinem Chef nach lange Zeit erfolglos verlaufenden Ermittlungen immer engere zeitliche Ultimaten gestellt werden, dran an einem Fall, der ihn und seine Lebensgefährtin, nachdem sie von der anderen Seite der Welt schließlich zurückgekehrt ist, brennend interessiert, gerade weil er so seltsam ist. Und da aller (diesmal weniger) guten Dinge auch in Nessers Romanwelt drei sind, verschwindet kurz nach seinen beiden Vorgängern auch noch der für seine unbarmherzigen Verrisse gefürchtete Literaturkritiker Jack Walde von der Bildfläche.
Kaum einer weiß, dass der arrogante 53-Jährige ein Vermögen mit einem unter dem Pseudonym Tora Tilly veröffentlichten »Quartett haarsträubend spannender Thriller im Milieu der Oberschicht« gemacht hat und gerade die nächsten Bände plant. Dass er als Kritiker das am meisten öffentlich geißelt, was er als Autor fabriziert, stört ihn dabei wenig. Furcht hat er nur davor, dass seine Autorschaft an den literarisch anspruchslosen Pageturnern bekannt werden und ihn in der Öffentlichkeit diskreditieren könnte. Aber deshalb gleich sein Verschwinden simulieren?
Manchmal hilft nur der Zufall
Allein auch in Waldes Fall führen alle Spuren zunächst ins Dunkel. Erst als man die Beziehungen unter den drei Verschwundenen genauer unter die Lupe nimmt und grenzüberschreitend zu arbeiten beginnt, weil schließlich alles darauf hinweist, dass bei einem vor Jahren stattgefundenen Literaturfestival in Kopenhagen etwas geschehen sein könnte, das blutige Konsequenzen in der Gegenwart zeitigt, kommt Bewegung in die Geschichte. Deren Lösung schließlich – trotz der Tatsache, dass der Leser längst ahnt, was hinter dem Verschwinden der drei Autoren steckt – noch einmal eine ziemliche Überraschung bereithält.
Håkan Nesser hat seinen siebenten Barbarotti-Roman geschickt komponiert. Abwechselnd lässt er die Leser in die Psyche der drei Verschwundenen und in die Ermittlungsarbeit von Barbarotti und den Seinen blicken. Drei über das Buch verteilte und mit »Ground Zero« überschriebene kurze Abschnitte deuten zudem an, was vor Jahren geschah und zum Ausgangspunkt eines raffiniert ersonnenen Rachefeldzugs wurde. Zudem spart der Roman nicht mit Hinweisen auf unsere reale Gegenwart, auch wenn er, wie übrigens der überwiegende Teil von Nessers Büchern, hauptsächlich an fiktiven Orten spielt. Aber auch Gunnar Barbarotti, Eva Backmann und all die anderen Figuren leben in einer Welt, »in welcher der Begriff Fakten akut bedroht war« und »Wahrheiten ziemlich oft vor Ansichten kapitulieren mussten«.
Und schließlich macht die weltweite Corona-Pandemie auch vor Kymlinge nicht Halt und aus der in normalen Zeiten nicht der Rede werten Reise der Ermittler ins Nachbarland wird, da sich sowohl Schweden wie auch Dänemark mit steigenden Infektionszahlen, der Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Homeoffice und Altenheimen, »die jahrzehntelang nach dem Prinzip minimaler Kosten betrieben worden waren« und nun zu Orten massenhaften Sterbens werden, konfrontiert sehen, ein kleines Abenteuer.
Mordaufklärung in Zeiten der Pandemie
Nesser gehörte noch nie zu den Lauten. Auf Action kann er in seinen Romanen gut verzichten, ohne dass die dadurch weniger spannend wären. Auch in Schach unter dem Vulkan können Barbarotti und seine Mitarbeiter ihre Dienstwaffen getrost stecken lassen. Zumal sich der 60-jährige Kommissar mit Rückenproblemen plagt und seine aktuelle Lebensgefährtin darüber nachdenkt, ob ihre Beziehung nicht gerade an einem toten Punkt angekommen ist.
Aber Schachspielen – die große Leidenschaft von Barbarottis Vorgänger Van Veeteren – darf man noch, sogar während eines Vulkanausbruchs. Wobei es in diesem Fall weder um feuerspeiende Berge noch um die Bewegungen von 32 Figuren auf 64 Feldern geht, sondern darum, dass sich Nessers Held mit diesem Bild vergegenwärtigt, wie absurd es eigentlich ist, während einer die ganze Welt bedrohenden Pandemie über verschwundene Schriftsteller nachzudenken.
Titelangaben
Håkan Nesser: Schach unter dem Vulkan
Aus dem Schwedischen von Paul Berf
München: btb 2021
428 Seiten. 22 Euro
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