Bücher haben die Macht, mit den Dimensionen Raum und Zeit zu spielen, mit ihnen gleichsam zu jonglieren, das Ferne ganz nah herzuholen, auf das Nahe mit Distanz zu blicken, Vergangenheit und Zukunft aufzuheben. Einem außergewöhnlichen Bilderbuch gelingt das auf unnachahmliche Art, findet ANDREA WANNER.
Das Cover ist schwarz, wir sehen die Erde und den Mond, beides aus der Ferne. Wo sind wir, wenn das unser Blick auf unsere Welt ist? Es bleibt zunächst dunkel, wenn wir das Buch öffnen. Aber in dieser Dunkelheit tobt ein Feuer, sprühen Funken, bewegen sich rot glühende Lavamassen und erstarren: »Vor Milliarden von Jahren formte sich das Land.« Und dann? Besiedelten Dinosaurier die Erde, zogen Menschen auf der Suche nach Überlebensmöglichkeiten durch Wüsten und über Berge, bauten schließlich sesshaft geworden so spektakuläre Dinge wie die Pyramiden. Aber auch das ist noch Tausende von Jahren vor unserer Zeit geschehen, der wir uns mit immer kleiner werdenden Seiten nähern, jede im Format in Länge und Breite um knapp einen Zentimeter schmäler als die vorhergehende.
Die Zeiten des Rückblicks werden kürzer: Vor hundert Jahren, vor zehn Jahren, vor einem Jahr … Für manche ist das vielleicht der erste Zeitraum, den sie selbst erlebt haben: vor einem Jahr. Das Tempo zieht an: »Vor einem Monat war noch Herbst.« Jetzt ist tatsächlich der Winter da. Und dann erinnern wir uns: vor einer Woche, gestern, vor einer Stunde.
Wir blicken von außen in ein Haus mit erleuchteten Fenstern, der Vater werkelt noch. Ist das Zimmer unter dem Dach das Kinderzimmer? Und dann sind wir fast angekommen: »Vor einer Minute wurde das Licht gelöscht.« Durch den Türspalt dringt warmes Licht ins Zimmer, hinterlässt neben dem Bett auf dem Boden eine goldene Spur. Warm und geborgen wirkt alles. Und wir sind bereit für den magischen Moment.
»Jetzt!« Da ist er. Ein Augenblick. Ein Atemzug. Die kurze Zeitspanne, die schon vorüber ist, wenn wir anfangen darüber nachzudenken. Festgehalten als das Herzstück des Bilderbuches: ein kleines, dunkles Porträt des Nachthimmels mit winzigen Sternenpunkten, über den eine Sternschuppe zieht. Und die winzige Gelegenheit, diese Zeit zu nutzen: »Wünsch dir was!«.
Den Rahmen bilden in sanften, gedeckten Tönen einerseits die Ereignisse der Vergangenheit, die gesamte Geschichte unsere Erde, die wir gerade durchschritten haben und die sich als bunte Streifen um das Bild des Sekundenbruchteils legen. Und wir sind ja erst in der Mitte der Geschichte angekommen. Was fehlt, die andere Hälfte, ist die Zukunft. Unsere Zukunft, genau ab jenem Jetzt.
Die beginnt mit dem Aufstehen am nächsten Morgen, mit der Frage danach, was der Nachmittag bringen könnte. Und der kommende Abend, das Wochenende, der nächste Monat. Hier begleiten Fragen die collagenartigen Szenen, die Freiräume für eigene Gedanken, Pläne und Wünsche lassen. Die Abstände werden wieder größer. »Wie feierst du im nächsten Jahr deinen Geburtstag?«, die Zukunft reicht bis in die Zeit, in der das angesprochene du alt geworden ist. Und darüber hinaus.
Johanna Schaible arbeitet als Künstlerin und Illustratorin in Bern. Ihr Bilderbuchdebüt ›Es war einmal und wird noch lange sein‹ war der Sieger der dPictus-Präsentation, die 2019 auf der Frankfurter Buchmesse 350 unveröffentlichte Bilderbuch-Projekte ausstellte, und wurde von den dreißig Jury-Verlagen unabhängig voneinander als bestes Projekt ausgezeichnet. Eine gelungene Synthese aus Philosophie und Kunst, aus Vergangenem und Zukünftigen, aus Erinnern und Planen, aus Nachdenken und Genießen. Einfach ein wunderschönes Buch, das unterschiedliche Altersgruppen ganz unterschiedlich anspricht und erreicht und über das man ins Gespräch kommen kann.
Titelangaben
Johanna Schaible: Es war einmal und wird noch lange sein
München: Hanser 2021
56 Seiten, 18 Euro
Bilderbuch ab 5 Jahren
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