Besondere Vögel

Kinderbuch | Mascha Kaléko: Der König und die Nachtigall

Sie sehen unscheinbar aus, aber ihr wunderschöner Gesang macht sie zu etwas ganz Besonderem. Und sie wecken die Begehrlichkeiten von Kaisern und Königen. Von ANDREA WANNER.

Der König und die Nachtigall»In China, weißt du ja wohl, ist der Kaiser ein Chinese, und alle, die er um sich hat, sind Chinesen. Es sind nun viele Jahre her, aber gerade deshalb ist es wert, die Geschichte zu hören, ehe sie vergessen wird.« So beginnt Hans Christian Andersens Märchen von der Nachtigall.

Er erzählt von dem unermesslich reichen Herrscher, der erst aus einem Buch von der Existenz des Vogels erfährt und ihn zunächst unbedingt hören und dann besitzen will. Und sie schließlich gegen etwas seiner Meinung nach Besseres und eintauscht: einen Spielzeugvogel, der noch schöner singen kann. Und es soll lange dauern, bis die echte Nachtigall doch noch zu ihrem Recht kommt.

Wer mit dieser Geschichte im Kopf das Bilderbuch ›Der König und die Nachtigall‹ aufschlägt, sieht sich zunächst – welche Überraschung – einer Maus und einer Klapperschlange gegenüber. Spielerisch-heiter beginnt die 1975 verstorbene Mascha Kaléko ihre gereimte Parabel. Es geht schlicht darum, dass nicht alle das Gleiche brauchen und mögen. Die Klapperschlange zum Beispiel Süßigkeiten nur dann, wenn die quasi die Füllung einer Maus darstellen. So hat wenigstens Hildegard Müller kongenial die Verse von Kaléko interpretiert.

Die wird dann deutlicher: Nachtigallen legen keinen Wert auf erlesene Köstlichkeiten, verschmähen Lachs und Spargel und halten sich stattdessen an schlichtes Vogelfutter. Was einem König aus dem Schloss Sowieso im Lande Werweißwo egal ist. »Diesen Sänger will ich haben, fangt ihn ein!«, befiehlt er. Der Vogel wird gefangen und in einen goldenen Käfig gesperrt. Und obwohl er nach Strich und Faden verwöhnt wird, singt er nicht mehr – und wird nicht mehr singen.

Kalékos Stil ist vordergründig heiter – wer die bedeutende deutschsprachige Lyrikerin des 20. Jahrhunderts kennt, ahnt, dass das nicht so bleiben wird. Hildegard Müller sorgt für einen kindgerechten Rahmen, der die Moral der Geschichte in eine andere Welt und ein Stück von uns weg rückt: Klare Farben und gespannt lauschende Figuren lassen sich auf die Geschichte ein, die von einer kleinen Nachtigall erzählt wird.

Mit Beginn der eigentlichen Handlung werden die Farben dunkler und diffuser, wird ein buntes Treiben am Hof schließlich von einem winzigen Vogel auf einem Teller bestimmt: Das, was ihm kredenzt wird, ist ein Teil eines anderen Tieres, eines größeren Artgenossen: eines Vogels. So verstummt der erschrockene Vogel, vergießt bittere Tränen. Der Teller, der nunmehr aussieht wie ein Stück der Erde, über das sich der dunkle Himmel wölbt, wird sein Totenbett.

Die Moral erklärt dem König einer seiner Weisen: »Eines schickt sich nicht für alle«, macht er dem Herrscher klar. »Jeder muß auf seine Weise glücklich oder traurig sein!«, Und da, wo Kaléko den König mit dieser Erkenntnis alleine lässt, schließt sich der Kreis. Das Bilderbuch kehrt zurück zu dem lauschenden Publikum und seiner Erzählerin, einer munter davonfliegenden Nachtigall.

So wird dank Hildegard Müller – und an dieser Stelle gestehe ich, dass ich ein Riesenfan von Stachelbär, Kragenbär und Brummbär, den Bärenfreunden bin – aus großer Literatur ein großartiges Bilderbuch.

| ANDREA WANNER

Titelangaben
Mascha Kaléko: Der König und die Nachtigall
Illustriert von Hildegard Müller
München: Tulipan 2019
36 Seiten, 15 Euro
Bilderbuch ab 5 Jahren
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