Ob episodenhafter Roman oder autobiographisches Erinnerungsbuch – man kann Edgar Selges literarisches Erstlingswerk auf unterschiedliche Weise lesen. Hast du uns endlich gefunden ist eine beeindruckende Reise in ein Nachkriegsdeutschland der Unstimmigkeiten, offenen Fragen und Widersprüche, staunend betrachtet aus dem Blickwinkel eines Halbwüchsigen. Von INGEBORG JAISER
Künstlerische Doppelbegabungen sind ein bemerkenswertes Phänomen, wie zeichnende Schriftsteller, dichtende Musiker, komponierende Maler zeigen. Mit ihrer Hinwendung zur Literatur haben in den letzten Jahren Schauspieler wie Matthias Brandt und Joachim Meyerhoff, Axel Milberg und Ulrich Tukur die Aufmerksamkeit und Gunst der Leser gewonnen.
Im fortgeschrittenen Alter von 73 Jahren legt nun auch der Film- und Theaterschauspieler Edgar Selge ein fulminantes literarisches Debüt vor. Man fragt sich erstaunt, wieso sein beachtliches Talent so lange im Verborgenen geblieben ist – und das bei einem Schwiegervater wie Martin Walser.
Klavierspielender Gefängnisdirektor
Spulen wir die Zeit zurück in die späten 1950er Jahre. Öffnen wir den Vorhang für ein großbürgerliches Kammerspiel für Vater, Mutter und vier Söhne. Der Krieg, die Flucht aus Ostpreußen und die sogenannten schlechten Zeiten sind vorbei. »Jetzt muss Glanz her« – zur Not mit ein bisschen Anstrengung und zusammengebissenen Zähnen. Davon zeugt auch das gediegene Ambiente mit getischlertem Buffet und akkurat ausgelegten Teppichfransen überm abgezogenen Parkett. Im Flügelzimmer wird Hausmusik zelebriert, in den Mußestunden große Literatur genossen. Doch die Konzerte finden vor außergewöhnlichem Publikum statt. Wie Statisten hocken die Strafgefangenen der nahen Justizvollzugsanstalt im Herforder Wohnzimmer und lauschen Bach, Händel, Mozart, Beethoven. Diese seltene Abwechslung haben sie dem Gefängnisdirektor zu verdanken, der sich gerne fortschrittlich und aufgeschlossen gibt. Der hier wohnt und selbst den kultivierten Pianisten mimt.
Vor dieser Kulisse bewegt sich mal staunend, mal gelangweilt, aber immer mit wachem Blick der zwölfjährige Sohn des Hauses und Ich-Erzähler Edgar. Als typisches Sandwichkind blickt er bewundernd auf zu den älteren, längst renitent und flügge gewordenen Brüdern Martin und Werner und kümmert sich nur widerwillig um das Nesthäkchen Andreas. Oft steht er zwischen allen Stühlen, kann sich keinen Reim auf das Geschehen machen. Während man ihm Bachsonaten zutraut, wird er bei der Lesung von Dostojewskis Gebrüder Karamasow verschämt aus dem Zimmer geschickt. Und dass ein wegen versuchtem Doppelselbstmord einsitzender Strafgefangener »ein halber Kleist« genannt wird, stürzt selbst den Vater in Erklärungsnot.
Später wird der halbwüchsige Edgar in einer Buchhandlung Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit klauen, weil er sich endlich verstanden fühlt, und sei es nur in diesem Roman. An anderen Tagen sitzt der Junge noch spielend im Birnbaum und bombardiert als Generalfeldmarshall Kesselring die Wiese unter seinen Füßen – stellvertretend für die Städte London, Rotterdam, Warschau – mit reifen Früchten. Das ist doch die „Gute Luise“ ruft der Vater entsetzt und sammelt die ruinierten Birnen vom Boden auf.
Besuch der Toten
Ja, Edgar stiehlt, lügt, eckt an, legt sich seine eigenen Wahrheiten zurecht. Und wenn er nicht spurt, setzt es Schläge und Ohrfeigen, dass er nur so gegen das sorgsam gedrechselte Birkenholzbuffet kracht. Der Schmerz, diese unauslöschliche »Körpererinnerung«, ist es wohl auch, die rund 60 Jahre später viele eindrückliche Szenen plastisch und überdeutlich wieder aufleben lässt. Vielleicht hätte Edgar Selge ohne den aktuellen Stillstand nie den Mut und die Kraft gefunden, die Geister der Vergangenheit heraufzubeschwören. »Seit ich gebeten werde, wegen der Pandemie die Wohnung nicht zu verlassen, zu meinem Schutz, altere ich im Zeitraffer. In meinen Träumen, die jede Nacht ihre Netze auswerfen, tauchen neuerdings meine Eltern als zuverlässiger Beifang auf.« Hast du uns endlich gefunden, ruft in einem dieser luziden Träume die Mutter erleichtert aus. Nur der Vater bleibt einsilbig.
Dieses Buch kommt ganz ohne durchgehenden Plot aus. Hellsichtig reichert Edgar Selge in episodenhaften Rückblicken Familien- mit Zeitgeschichte an, persönliche Erinnerung mit harten Fakten. Dabei ist der Schmerz stets ein versteckter Begleiter. Ein Schmerz in allen Schattierungen und Tonlagen, der schließlich in einem herzzerreißenden, aufwühlenden Epilog mündet, gewidmet dem viel zu jung verstorbenen Bruder Andreas. Ein bewegendes Buch voll erzählerischer Stärke, doch frei von nostalgischen Anwandlungen.
Titelangaben
Edgar Selge: Hast du uns endlich gefunden
Berlin: Rowohlt 2021
301 Seiten. 24.- Euro
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Erstaunlicherweise hat dieser Kommentar die Nazi-Gesinnung der Eltern, mit denen sich Etja ausgiebig beschäftigt, die sexuellen Übergriffe des Vaters und seine brutale Prügelstrafe, die einen überaus wichtigen Aspekt des Versuches des Autors, seine Eltern zu verstehen, völlig ausgeblendet. Edgar Selge hat intimste Dinge seines Heranwachsens geschildert, wofür ihm Bewunderung gezollt werden muss. So auch homoerotische Gedanken. Hat die Kommentatorin das Buch nur unzureichend quer gelesen? Christian Tesch