Transatlantische Beziehungen

Roman | Anna Katharina Hahn: Aus und davon

Wie schnell eine Familie zerbröckeln und auseinanderdriften kann, welche Kräfte an den unterschiedlichen Enden zerren, zeigt Anna Katharina Hahns nunmehr vierter Roman Aus und davon, der den weiten Sprung von der schwäbischen Landeshauptstadt über den Ozean bis nach Pennsylvania wagt. Und wieder zurück. Von INGEBORG JAISER

Aus und davonLängst hat sich Anna Katharina Hahn zur Expertin für die Tiefen der schwäbischen Seele im Allgemeinen und der Verfassung des Stuttgarter Bürgertums im Speziellen entwickelt – einer fragilen Befindlichkeitslage irgendwo zwischen »Eurythmie und Hysterie«. Im Mittelpunkt von Aus und davon stehen Elisabeth Geiger, eine ehemalige Reisebüroleiterin mit verbliebenen Chefallüren und pietistischer Sozialisation, und ihre 45jährige Tochter Cornelia Chatzis-Geiger, eine sportive Physiotherapeutin und Mutter (seit neuestem auch noch alleinerziehend) des adipösen Bruno und der pubertierenden Stella.

Parallel zur Scheidung vom griechischen Ehemann Dimi beginnt auch der gefühlte soziale Abstieg von der angesehenen Halbhöhenlage in den schäbigen Stuttgarter Osten (eine »bemitleidenswerte Arbeitergegend« mit Gaskessel und einem inzwischen zum Schweinemuseum umgewidmeten Schlachthof). Irgendwann ist es Cornelia leid, weiterhin im »Saft des Familiengulaschs« zu schmoren und kündigt eine Auszeit in Amerika an, auf der Suche nach einem verschütteten Zweig der Familiengeschichte. »Alles stehen lassen und dann weggehen wie die Sau vom Trog, das fühlt sich großartig an.«

Große und kleine Fluchten

Als Urlaubsvertretung soll Elisabeth das Regiment in der Ostendstraße übernehmen, auch wenn ihr Scheitern schon vorprogrammiert ist. Nach einem »Schlägle« hat sich ihr einst lebensfroher Ehemann Hinz in einen ungeduldigen, ruppigen Patienten mit Nuschelstimme und amnestischer Aphasie verwandelt, für den Elisabeth nicht den »Bettflaschenknecht« spielen will.

Doch seine Abreise in eine vermeintliche weitere Reha entpuppt sich als zweiter Frühling mit einem fremden Weib. Herzschmerz und (Liebes)Kummer auf allen Schauplätzen, wie aus einer Vorabendserie entsprungen: Das in der Schule gemobbte Pummelchen Bruno verschwindet spurlos, Stella verliebt sich unglücklich in einen unbegleiteten syrischen Flüchtlingsjungen und Cornelia tröstet sich im fernen Pennsylvania etwas ungeschickt mit einem lonesome Rider, dem sie – ganz Physiotherapeutin – den verspannten Rücken massiert.

Trudele und Trösterle

Trügerisch eingängig und leicht, zuweilen etwas seicht, würde die – mal aus Elisabeths, mal aus Cornelias Perspektive erzählte – Geschichte ihren Lauf nehmen, wäre sie nicht von dunklen Kapiteln der Familienhistorie unterlegt. In Meadville, PA versucht Cornelia zu rekonstruieren, wohin ihre Großmutter Trudele einst im Hyperinflationsjahr 1923 verschickt wurde, um als Hausangestellte und Pflegerin ein paar Dollars für die verarmte schwäbische Familie zu erwirtschaften.

Und dieser dritte Erzählstrang wird sehr spannend, mitreißend und anrührend vom »Linsenmaier« vorgetragen, einer mit Alblinsen gefüllten Puppe, die Trudele auf der Schiffsüberfahrt in die neue Welt begleitet hat – und nach einem unglücklichen Jahr wieder zurück. Noch immer im Familienbesitz, dient der Linsenmaier nun als »Trösterle« für den gebeutelten Bruno.

Relax, take it easy

Dieses moderne Familienepos über vier Generationen und zwei Kontinente hinweg zeigt dann seine Stärken, wenn es die Vergangenheit wiederbelebt (wie die Auswanderungsgeschichte von Trudele oder den durch die frommen Fellbacher Diakonissen Sophie und Marie verkörperten »Pietcong«) oder dem piefigen Ländle ganz den Rücken kehrt. Eine der witzigsten Szenen des Romans: mitten im quirligen Manhattan lässt sich die erschöpfte Cornelia von einer fremden Umarmung und den beruhigenden Worten »Relax, take it easy. Just be quite, dear« trösten, um hernach konsterniert zu erkennen, dass sie eben vom humanoiden Roboter Huggy vor einem Apple Store geherzt wurde.

Anna Katharina Hahn erweist sich als höchst genaue Beobachterin, sowohl in ihrer schwäbischen Heimat wie im fernen Meadville (wo sie 2017 als Writer-in-Residence weilte), zudem als bibelfeste, sagen- und märchenkundige Erzählerin. Dennoch würde sich wohl mancher Leser mehr Lücken und Leerstellen in dieser etwas überdekorierten Familiengeschichte wünschen.

Sonst mag es ihm wie Elisabeth ergehen, die einmal symptomatisch das Gefühl äußert, »auf einer Theaterbühne zu stehen, am Ende einer Boulevardkomödie, wenn ein Darsteller nach dem anderen hereinstürzt und den nächsten Slapstick veranstaltet.«

| INGEBORG JAISER

Titelangaben
Anna Katharina Hahn: Aus und davon
Frankfurt: Suhrkamp 2020
302 Seiten. 24.- Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Übrig

Nächster Artikel

Worte oder Wörter?

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Auf Marcel Prousts Spur

Roman | Edmund de Waal: Der Hase mit den Bernsteinaugen Bis zur Lektüre von ›Der Hase mir den Bernsteinaugen‹ habe ich nicht gewusst, was Netsuke sind. Musste man ja auch nicht. Aber jetzt weiß ich, dass es sich dabei um das ästhetische »Fingerfood« kleiner japanischer Holz- & Elfenbeinschnitzereien handelt & dass der Londoner Keramikprofessor (auch ein akademischer Grad, von dem ich bislang noch nie etwas gehört hatte) Edmund de Waal 264 Stück Netsuke besitzt, deren Lebensweg er in seinem grandiosen Buch (dem kein zweites dieser Art »aus seiner Feder« folgen dürfte) beschreibt. Der Titel gebende ›Hase mit den Bernsteinaugen‹ ist

Verführen, amüsieren, provozieren

Zwei neue Bücher zum 70. Geburtstag von Georg-Büchner-Preisträger Botho Strauß am 2. Dezember* Der exzentrische Nonkonformist Botho Strauß, der zur Melancholie neigende erzählerische Philosoph und vehemente Zeitgeistkritiker, ist deutlich ruhiger geworden und schlägt neuerdings bisher bei ihm noch nicht erlebte versöhnliche Töne an. Von PETER MOHR

Aggression nach außen

Roman | Michael Kumpfmüller: Ach, Virginia

»Liebster, ich bin mir sicher, dass ich wieder wahnsinnig werde, ich kann nicht länger dagegen ankämpfen«, lässt Michael Kumpfmüller in seinem neuen Roman seine Hauptfigur, die weltbekannte Schriftstellerin Virginia Woolf (1882-1941) klagen. Der 58-jährige Erfolgsautor Kumpfmüller, der erst im Alter von fast vierzig Jahren mit seinem von der FAZ damals vorab gedruckten Romanerstling Hampels Fluchten debütiert und zuletzt mit Nachfolgewerken wie Die Erziehung des Mannes (2016) und Tage mit Ora (2018) respektable Erfolge gefeiert hatte, widmet sich künstlerisch nun zum zweiten Mal einer Lichtgestalt der Weltliteratur. Vor neun Jahren ließ er uns in Die Heimlichkeit des Lebens an seiner Annäherung an Franz Kafka teilhaben. Von PETER MOHR

Der Fall der verschwundenen Schriftsteller

Roman | Håkan Nesser: Schach unter dem Vulkan

Weil der bekannte schwedische Schriftsteller Franz J. Lunde im Anschluss an eine Lesung spurlos verschwindet, muss Gunnar Barbarotti, der in Kymlinge für die Ermittlungsarbeit zuständig ist, ran. Es ist der siebte Fall für den Nachfolger des genial-vergrübelten Kommissars Van Veeteren im Werk des 71 Jahre alten Håkan Nesser und ein ganz und gar ungewöhnlicher dazu. Denn Lunde hat ein Erzählfragment hinterlassen, in dem angedeutet wird, dass er zuletzt von einer immer wieder auftauchenden Leserin gestalkt und bedroht wurde. Viel Arbeit für Barbarotti, zumal Lunde nicht der einzige verschwundene Literat bleibt und auch im fiktiven Kymlinge die Corona-Pandemie das Leben und Arbeiten zunehmend erschwert. Von DIETMAR JACOBSEN

Ich bin eine ganz andere

Roman | Judith Hermann: Aller Liebe Anfang Vor 16 Jahren hatte Judith Hermann mit ihren Debüterzählungen Sommerhaus, später einen grandiosen Erfolg gefeiert. Mehr als 300 000mal war das Buch verkauft worden und der Name Judith Hermann wurde stets in einem Atemzug mit dem Phänomen »Fräuleinwunder« genannt. Nun ist Judith Hermanns erster Roman ›Aller Liebe Anfang‹ erschienen. Von PETER MOHR