Das Leben steckt voll ungeahnter Möglichkeiten und Entscheidungen. Wer kennt schon alle Spielregeln, so wie diese: Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne. Variantenreich und mit überbordender Fabulierlust schickt der Autor Saša Stanišić seine Figuren in einen Proberaum erweiterter Eventualitäten und Träume. Von INGEBORG JAISER
Im heimlichen Wettbewerb um den ungewöhnlichsten Buchtitel des Jahres dürfte Saša Stanišićs neues Werk längst auf der Longlist stehen. Dabei haben es Erzählbände und die kurze Form der Prosa gar nicht so leicht in der deutschsprachigen Literatur. Doch Stanišić hält nichts vom Abschweifen, Durchblättern, Überfliegen und ermahnt den möglicherweise undisziplinierten Leser gleich zu Beginn, mit leichtem Augenzwinkern: »Bitte der Reihe nach lesen.«
Zwölf Geschichten spielen das Was-wäre-wenn des Lebens in allen Facetten durch: Zufall und Fügung, Wunschtraum und Fantasie, (Fehl-)Entscheidungen und ungeahnte Perspektiven, die das Mögliche im Unwahrscheinlichen imaginieren. Selbst wer sich der kategorischen Empfehlung Stanišićs zu widersetzen versucht, sollte bei der Lektüre unbedingt mit der ersten Story (Neue Heimat) beginnen, der Keimzelle dieses Buches, von der sich rhizomartig die weiteren Geschichten entwickeln.
Auch wenn dem Leser oftmals erst im Nachhinein die Zusammenhänge erkennbar sind, die verstecken Links und Querverweise, die Mehrfachbesetzungen und Doppelungen – wie im Memoryspiel (das gleich mehrere Geschichten dominiert), in dem man das gesuchte Zwillingskärtchen überraschend an ganz anderer Stelle wiederfindet. Oder haben wir es gar nicht mit einer Sammlung von Kurzgeschichten zu tun?
Das richtige Leben im falschen
Alles beginnt an einem heißen Heidelberger Nachmittag im Juni 1994. Vier Jugendliche hängen gelangweilt in den Weinbergen ab, allesamt Migrantenkinder, die Eltern mit »Kackjobs oder gar keinem Job«, die Verhältnisse prekär, die Aussichten eher mies. »Über Schule brauchen wir gar nicht reden, wie viele von uns schaffen es mit okayem Abschluss raus?« Auch ohne Etikett der Autofiktionalität entdecken wir sofort den jungen Saša Stanišić in diesem Freundeskreis der Perspektivlosen. Doch der, den sie Fatih nennen, hat eine geniale Idee: wie wäre es, wenn man die Zukunft antesten könnte, versuchsweise für zehn Minuten, in einem Proberaum des späteren Lebens?
Das mag man sich als geheimnisvolle Umkleidekabine vorstellen oder gar als Virtual-Reality-Labor. So träumt sich die Putzfrau Dilek trotz des immensen Arbeitspensums (»bist du Reinigungskraft bei vierzehn Familien und zwei Firmen, hast du am Ende des Tages keine Äußerungskraft mehr«) klammheimlich durch ein Zeitloch in ein anderes Leben. Spielt der junge Vater Georg Horvath gleich mehrere trickreiche Varianten im Memory des Alltags durch. Und wankt Gisel, die titelgebende Witwe, durch ein wahres Vexierbild wabernder Rentnerfantasien. Weiterhin treten unter anderem auf: Heinrich Heine, Angela Merkel, ein Doppelkopf spielender Reichsbürger, eine Kneipenbesitzerin auf Helgoland – und immer wieder Stanišić selbst, der sich kunstfertig und gewitzt auf einer Meta-Meta-Ebene ins Geschehen einmischt.
Bitte ein zweites Mal lesen
Dabei zieht der Autor alle Register literarischer Raffinessen, führt selbst den geübten Leser erst mal hinters Licht, sämtliche Regeln von Zeit, Raum und Logik ignorierend. Seine Stories glänzen mit Wortwitz und Situationskomik, spielen gekonnt mit Deja-Vu-Erlebnissen. Wenn der 1978 in Višegrad geborene und 1992 während des Bosnienkriegs mit seinen Eltern nach Deutschland geflüchtete Stanišić zu seinen Anfangsjahren in Heidelberg zurückspult (»Ich mochte nicht, dass ich wegen einer Sprache, die ich unvollständig sprach, behandelt wurde, als sei ich unvollständig.«), ist das Staunen über seine spätere schriftstellerische Ausdruckskraft und überbordende Fantasie ums so größer. Nicht nur die lange Liste seiner literarischen Auszeichnungen beeindruckt, darunter der Preis der Leipziger Buchmesse 2014 oder der Deutsche Buchpreis 2019.
Im Anhang zur Witwe tauchen all die Gewährsleute und ideellen Leihgeber auf, ohne die dieses Buch »weniger klar und korrekt sein würde«: von Arthur Schnitzler bis Andrea Maria Dusl, von Heinrich Heine bis zum Heeresgeschichtlichen Museum in Wien, selbst Karoline von Günderrode scheint ihre Hand im Spiel zu haben. Die clevere Konstruktion dieses literarischen Labyrinths, das durch mehrere Generationen und Herkunftsorte führt, verleitet nach der Lektüre gleich zu einem erneuten Imperativ: Bitte ein zweites Mal lesen.
Titelangaben
Saša Stanišić: Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne
München: Luchterhand 2024
254 Seiten. 24 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander
Reinschauen
| Leseprobe
| Mehr zu Saša Stanišić in TITEL kulturmagazin