Roman | Lee Child: Der letzte Befehl
Jack Reachers Alleinstellungsmerkmal unter den Thrillerhelden unserer Tage ist seine Unbehaustheit. Irgendwann ist der Ex-Militärpolizist auf der Straße gelandet. Seither beginnt jedes seiner Abenteuer dort und es endet auch da. Weder an Menschen noch an Orte fühlt sich Reacher gebunden. Einzig sein Gerechtigkeitsgefühl dient ihm als moralischer Kompass. Über die Gründe, warum sein Held immer unterwegs ist, hat sich Lee Child bis 2011 ausgeschwiegen. Dann erschien der 16. Jack-Reacher-Roman unter dem Originaltitel The Affair. Den gibt es nun auch auf Deutsch. Und endlich erfährt man, wie alles begann. Von DIETMAR JACOBSEN

Eine junge Frau ist in der Nähe eines Armeestützpunktes im Bundesstaat Mississippi ermordet worden und in Washington wird Major Jack Reacher in Marsch gesetzt. Der Militärpolizist soll vor Ort, in Carter Crossing, verdeckt ermitteln, ob Angehörige des im Stützpunkt Kelham stationierten Ranger Regiments, die seit 12 Monaten zu geheimen Missionen in den Kosovo fliegen – man schreibt das Jahr 1997, ein Jahr später wird der Kosovo-Konflikt ausbrechen, an dem sich auch die NATO mit Kampfeinsätzen unter Führung der USA beteiligt – etwas mit dem Tod der Frau zu tun haben.
Hochbrisant ist die Sache deshalb, weil eine der sich in Übersee monatlich abwechselnden zwei Kompanien von Reed Riley befehligt wird. Dessen Vater, Senator Carlton Riley, profitiert als Vorsitzender des Streitkräfteausschusses im US-Senat natürlich von einem Sohn, der als Kriegsheld und kluger Stratege gilt. Sollte sich herausstellen, dass einer der unter Reeds Befehl stehenden Männer ein Mörder ist, würde deshalb ein dunkler Schatten nicht nur auf Riley jun. selbst, sondern auch auf Riley sen. und dessen weitere politische Ambitionen fallen. Und die Wahrscheinlichkeit, dass sich der Killer unter den Elite-Soldaten findet, ist groß – denn der Mord geschah drei Tage, nachdem Reeds Einheit von ihrem jüngsten Kosovo-Einsatz nach Kelham zurückkehrte.
Auftrag Vertuschung
Fingerspitzengefühl ist also gefragt. Und wer sich ein bisschen in der Welt von Jack Reacher auskennt, ahnt bereits bevor der sich undercover nach Carter Crossing aufmacht: Die Sache wird ganz anders laufen, als sich das seine Washingtoner Auftraggeber vorstellen. Denn Reacher will den Täter finden ohne Rücksucht auf den Skandal, der sich da anbahnen könnte. Ihm geht es um Gerechtigkeit, nicht um Vertuschung, zumal sich nach seiner Ankunft in dem Kaff, das nur noch durch das benachbarte Militär am Leben gehalten wird, herausstellt, dass es sich bei der jungen Frau, deren gewaltsamen Tod er klären soll, bereits um das dritte Mordopfer innerhalb von 9 Monaten handelt. Dass auch sonst so einiges nicht stimmt in und um Carter Crossing, liegt für Childs Helden schnell auf der Hand.
Allein es soll hier nicht zu viel verraten werden von einem Roman, der, nachdem die letzten Reacher-Bände ein bisschen zu krawallig ausfielen – immerhin gut für Tom Cruise, der Jack Reacher seit 2012 auf der Kinoleinwand verkörpert –, nicht nur von seiner Geschichte her, sondern auch literarisch wieder mehr überzeugt. Natürlich muss Reacher auch in Carter Crossing seine beachtlichen Muskeln spielen lassen. Ein paar tumbe Landeier versuchen immer wieder, dem Fremden handgreiflich klarzumachen, wer in dem verschlafenen Nest das Sagen hat.
Weitaus interessanter und zu Liebesszenen führend, bei denen auch der zweimal am Tag durch den Ort donnernde Güterzug eine wesentliche Rolle spielt, ist allerdings die Affäre, die Childs Held mit dem örtlichen Sheriff, einer ehemaligen Marine-Corps-Angehörigen namens Elisazabeth Deveraux, beginnt. Die ist Reacher durchaus ebenbürtig, enttarnt ihn schon am Abend seiner Ankunft, gerät kurz darauf allerdings auch ins Visier des Ermittlers, nachdem der Spuren gefunden hat, die eine Eifersuchtstat nahezulegen. Doch nichts ist, wie es im ersten Moment scheint in einem Roman, der immer wieder mit Kapitelschlüssen glänzt, die ein gekonntes Mittelding zwischen Cliffhanger und Pointe darstellen.
Der erste Tag des restlichen Lebens
Auf knapp viereinhalbhundert Seiten hat Lee Child in Der letzte Befehl 88 Kapitel untergebracht. Deren durchschnittliche Länge von fünf, sechs Seiten sowie der knappe, Überflüssiges vermeidende, stets aufs Wesentliche zielende Stil – ins Deutsche übertragen hat das Buch Wulf Bergner – sorgen für ordentlich Tempo. Zudem weist Kapitel 1 mit einem Vorgriff auf das, was nach Reachers Einsatz in Carter Crossing passiert, den Leser schon einmal darauf hin, worauf er sich hinsichtlich der Mission, die in Kapitel 3 beginnt und 61 Buchabschnitte später endet, ohne dass der Roman selbst damit schon an sein Ende käme, weil Child noch einen Showdown nach dem Showdown auf Lager hat, gefasst machen muss.
So wie der Mann seine Aufgabe auffasst, durchführt und dabei eine Verschwörung aufdeckt, in die mächtige Männer in Washington verwickelt sind, muss er am Ende schließlich selbst um sein Leben fürchten. Und er zieht daraus den einzig noch möglichen Schluss: Mit der Vergangenheit brechen, abrechnen mit denen, für die er nur ein Werkzeug dargestellt hat, das man nach Gebrauch entsorgt, und gehen!
»Ich wählte die nächste Ausfallstraße, stellte einen Fuß auf den Randstein und einen auf die Fahrbahn und reckte den Daumen hoch.« Tja, so kennt man Lee Childs Helden aus mittlerweile 22 Romanen, von denen vier auf ihre deutsche Übersetzung noch warten. Schön, dass man nun auch endlich weiß, wie alles begann. Ins bürgerliche Leben zurückkehren freilich sollte Jack Reacher nicht – denn wir würden gern noch auf ein paar weitere spannende Missionen mitgenommen werden.
Titelangaben
Lee Child: Der letzte Befehl
Ein Jack-Reacher-Roman
Deutsch von Wulf Bergner
München: Blanvalet 2017
448 Seiten. 19,99 Euro
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