Helle Aufregung in der ganzen Familie von Kostas Charitos und bei all ihren Freunden: Ein Enkel ist da. Am liebsten würde sich Petros Markaris‘ Athener Mordermittler ab sofort nur noch mit dem familiären Nachwuchs beschäftigen. Doch gerade jetzt wird ein bekannter Unternehmer durch ein Bombenattentat getötet. Also hat der zwölfte Fall für Charitos und sein Team zunächst einmal Vorrang. Zumal noch mehr Menschen sterben müssen, bevor man den Tätern, die ihre mit »Das Heer der Nationalen Idioten« unterzeichneten Bekennerschreiben mit Federkiel und Tusche in Schönschrift verfassen, auf die Spur kommt. Von DIETMAR JACOBSEN
Er ist endlich da: Lambros, der Enkel von Kommissar Kostas Charitos und seiner Frau Adriani.
Doch wo Menschen geboren werden, da müssen Menschen auch sterben. Und wenn Letzteres als Folge eines Gewaltverbrechens geschieht wie im Fall des Athener Unternehmers Paris Fokidis, dann muss der neugeborene Enkel erst einmal in den Hintergrund treten. Denn Petros Markaris‘ Romanheld ist Athens bester Mordermittler und mit seinem kleinen Team dafür verantwortlich, dass dem Täter oder den Tätern Einhalt geboten wird.
Terror mit Federkiel und Tusche
Das ist diesmal freilich alles andere als leicht. Schon bei der Frage, ob es sich bei den Verantwortlichen für die Anschläge – dem Mord an dem Tourismus-Unternehmer Fokidis folgen noch drei weitere Attentate, insgesamt zählt man fünf Todesopfer – um Terroristen oder Täter aus dem Bereich der organisierten Kriminalität handelt, will man sich nicht so recht einig werden.
Denn Mafiosi verschicken keine Bekennerbriefe, schon gar nicht solche in Schönschrift. Und Terroristen verbinden ihre Taten in der Regel mit eindeutigen politischen Botschaften. Wer also verbirgt sich hinter dem »Heer der Nationalen Idioten«, wie die an die Presse geschickten Mitteilungen der Täter unterzeichnet sind?
›Zeiten der Heuchelei‹ ist der zwölfte Roman rund um Kommissar Kostas Charitos, seine Familie und Freunde sowie sein Ermittlerteam und dessen Arbeit. Er bietet erneut alles, was die Leser des 1937 in Istanbul geborenen Autors von Anfang an zu schätzen wissen: einen überaus nüchternen Erzählton, mit dem den Ereignissen aus der Ich-Perspektive der Hauptfigur gefolgt wird, das Nebeneinander von Privatem und Dienstlichem im Leben des Kommissars, eine deutliche politische Dimension als Hintergrund des Erzählten sowie die Parteinahme des Autors für diejenigen, die es zu keiner Zeit auf die Sonnenseite des Lebens schaffen.
Damit unterscheidet sich Petros Markaris im Übrigen von seinem Helden. Kostas Charitos denkt bürgerlich-liberal und überlässt linksradikale Überzeugungen in der Regel jener Figur, die einst zu den erbittertsten Feinden des Kommissars gehörte, sich inzwischen aber zu seinen und seiner Familie engsten Freunden zählen darf, dem Altkommunisten Lambros Sissis.
Mittelschicht adieu
Dass auch die Bombenanschläge der »Nationalen Idioten« mit der aktuellen Situation im krisengeschüttelten Griechenland zu tun haben, wird spätestens klar, wenn die Gruppierung sich bei der Presse meldet und ihre Opfer, die auf die Ermittler um Kostas Charitos zunächst einen völlig unbescholtenen Eindruck machen, der Heuchelei bezichtigen. So gibt sich der Unternehmer Fokidis als selbstloser Unterstützer mittelloser Studierender aus, bezahlt seine Steuern aber auf den Kaiman-Inseln und stellt die jungen Leute, für deren Ausbildung er aufgekommen ist, anschließend als Geringverdiener in seinen Hotels ein. Alte, erfahrene Angestellte schickt er dafür in die Arbeitslosigkeit.
Das zweite Opfer, ein Angestellter des Staatlichen Statistikamts, täuscht die Öffentlichkeit über die Arbeitsmarktsituation, indem er auch jene Millionen zu den Vollbeschäftigten zählt, die – wenn überhaupt – nur einen Hungerlohn beziehen. Und die drei Opfer des dritten Anschlags, ein Abteilungsleiter des Finanzministeriums und zwei Emissäre der Europäischen Union, müssen sterben, weil sich hinter den von ihnen veröffentlichten positiven Ergebnissen hinsichtlich der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes die Tatsache verbirgt, dass die eingeleiteten Reformen allein den Reichen zugutekommen, während die Armen und die Mittelschicht, die für die Steigerung der Staatseinnahmen hauptverantwortlich sind, unterm Strich mehr verlieren als gewinnen.
Dass man sich, um den Fall zu lösen, näher mit jenen beschäftigen muss, die zu den Verlierern der gesellschaftlichen Umbrüche der letzten Jahre zählen, arbeitslos geworden sind und aufgrund ihres Alters auch keine neue Arbeit mehr finden oder kaum genug Geld nach Hause bringen, um für ihre Familie und sich das Überleben zu sichern, ist schnell klar. Und so ist das Ende der Suche nach einer Gruppierung, die ihr Zorn über die aktuellen Verhältnisse in ihrer Heimat dazu gebracht hat, zur Selbstjustiz zu greifen, auch nicht sonderlich spektakulär.
Allerdings stehen die Attentäter mit ihren Ansichten nicht allein da. Viele teilen ihren Zorn, auch wenn sie Gewalt als Mittel, auf Missstände aufmerksam zu machen, verurteilen. Kostas‘ Freund Lambros Sissis, nach dem man den Enkel benannt hat, bringt es schließlich auf den Punkt. Für ihn nämlich ist Lenin der Einzige, der Recht behalten hat: »Weil der Titel eines seiner Bücher exakt beschreibt, wie es uns in Griechenland ergeht: Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück. Aber Lenin war zu optimistisch. Wir machen nicht zwei Schritte zurück, sondern mindestens fünf.«
Titelangaben
Petros Markaris: Zeiten der Heuchelei. Ein Fall für Kostas Charitos
Roman. Aus dem Neugriechischen von Michaela Prinzinger
Zürich: Diogenes Verlag 2020
390 Seiten. 24 Euro
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