//

Familienzusammenführung

Film | TV: TATORT – Türkischer Honig (MDR), 1.1.

Die ersten Minuten reißen uns ratzfatz in Abgründe, uns bleibt kaum eine Sekunde, uns über das übernächtigte Gesicht der Eva Saalfeld zu wundern, wir werden in familiäre Verstrickungen geworfen, »Ich bin dein Vater!«, »Du bist Abschaum!«. Nein, »Action« sollte das niemand nennen.
Von WOLF SENFF

Tatort: Türkischer Honig; Bild: MDR/Saxonia Media/Junghans
Tatort: Türkischer Honig; Bild: MDR/Saxonia Media/Junghans
Die Handlung ist vielschichtig und mit Raffinesse gewoben (Buch: Andreas Pflüger), sie ist ergreifend und erlaubt rührende Momente, und dabei müssen wir uns sputen, dass wir dem rasanten Szenenwechsel auch folgen (Regie: Christine Hartmann). Ein TATORT, der es in sich hat.

Verwandtschaft auf Null, aber …

Julia Bahrig (Josephine Preuß) ruft ihre Schwester Eva Saalfeld (Simone Thomalla) an, sie müsse sie unbedingt treffen. Die beiden haben sich jahrelang nicht gesehen, die Verwandtschaftsverhältnisse waren auf Null geschraubt, die Mutter betreibt eine Schneiderei auf Zypern, der Vater Horst Saalfeld (Günther Junghans) – man erinnert sich – ist inhaftiert.

Julia, die eben noch ihr kleines Geschäft abschließt, in dem sie Türkischen Honig aus eigener Produktion verkauft, und über die Straße geht, wird urplötzlich in ein Auto gezerrt und ist entführt, bevor Eva Saalfeld, die auf der anderen Straßenseite wartet, überhaupt reagieren kann.

Von heimischen und moslemischen Bräuchen

Die mitreißenden Ereignisse entführen in heimische und moslemische Bräuche. Das Tempo bleibt rasant, allein mit dem Auftreten Andreas Kepplers (Martin Wuttke) kommt es augenblicklich zur Ruhe; seine souveränes, latent selbstironisches Auftreten bremst jegliche Hektik aus, sein spontanes Interesse für den Ford Mustang von Ersoy Günes (Dennis Moschitto) überbrückt im Nu jegliche kulturelle Differenz. So läuft es halt mit Männern, was kann man tun.

Türkischer Honig ist auf menschliches Niveau herunter gedimmt, ein dramatischer Krimi ohne alarmistische Auftritte. Die Probleme von Eva Saalfeld sind in Ersoys Familie kontrastreich abgebildet. »Ich wette, als du sechzehn warst«, Keppler zu Ersoy, »da hast du heimlich was getrunken. Und er hat dich erwischt. Er hat dich windelweich geschlagen, mit nem Stuhlbein oder so. Und seitdem hast du keinen Tropfen mehr angerührt.«

Ein Gespräch, das Vertrauen schafft. »Es gibt da etwas, was Sie tun könnten. Ich möchte meinen Vater waschen dürfen. Das wär‘ ihm wichtig gewesen.« Und schon sitzen sie wie zwei Gockel in Ersoys Mustang Roadster, überholen noch kurz die Kollegin in ihrer biederen mitteleuropäischen Serienkarosse, und Keppler kutschiert zum Imam. Ersoy ist unsterblich verliebt, und das führte zu einem Problem mit dem Vater.

Leipziger Privilegien


Türkischer Honig
lässt dadurch, dass Spannungen in den Familien die Beteiligten hier wie dort nur ratlos und verzweifelt machen, gar nicht erst zu, dass politische Klischees und hohle Bekenntnisse aufkommen. Ersoy Günes erweist sich als ein vernünftiger junger Mann.

Auf den Leipziger TATORT ist, wie’s scheint, Verlass. Gewiss aufgrund der hervorragenden Besetzung, aber auch weil er darauf verzichtet, die Saalfeld-Keppler-Grundierung, wie es so schön heißt, zu »entwickeln« – die Kommissare dürfen bleiben, wie sie sind. Das ist doch mal ein Privileg.

| WOLF SENFF

Titelangaben
TATORT: Türkischer Honig (MDR)
Regie: Christine Hartmann
Ermittler: Martin Wuttke, Simone Thomalla
Mi., 1.1., ARD, 20:15 Uhr

Reinschauen
Alle Sendetermine und Online-Abruf auf DasErste.de
Gregor Keuschnig zu Rüdiger Dingemann: »Tatort«-Lexikon
Rüdiger Dingemann: »Tatort«-Lexikon (eBook)

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Champagner aus Stöckelschuhen

Nächster Artikel

Musik gegen die graue Zeit

Weitere Artikel der Kategorie »Film«

Eine schwarze Feder gibt’s aus London

Film | Im TV: TATORT – Großer schwarzer Vogel (RBB), 9. Februar Leicht ist es nicht, darüber nachzudenken, was ein so gewichtiger Titel bedeuten mag. Ein schwarzer Vogel kommt in diesem TATORT genaugenommen kaum vor. Gut, ein paar Mal fliegen Krähen über Land. Eine schwarze Feder taucht überraschend aus London auf. Sonst? Muss man halt drüber nachdenken. Von WOLF SENFF

Das letzte Chamäleon

Film | Interview ›Welcome to Sodom‹ ›Welcome to Sodom‹ ist eine bildgewaltige, apokalyptische Doku über Europas größte Elektromüllhalde – mitten in Ghana. »Ghana steht der ökologische Kollaps bevor«, resümiert der Filmemacher Florian Weigensamer über die dunkle Seite unserer elektronischen Glitzerwelt, recycelte Frankenstein-Computer und Kultur als »last frontier« der Menschlichkeit. Ein Interview von SABINE MATTHES.

Vierundachtzig plus vier

Film | Im TV: ›TATORT‹ Schwerelos (WDR), 3. Mai   Wie machen sie das, sofort ist man drin und dabei handelt es sich doch lediglich um die üblichen routinemäßigen Anrufe, das Klingelgeräusch langweilt sonst nur, wie kriegen sie das gebacken. Ach und die Suche nach dem Fallschirm in der stillgelegten Grubenanlage, der Blick aus dieser Höhe macht schwindeln, so liebevoll sind sie um uns bemüht. Von WOLF SENFF

Gesellschaft auf Dröhnung

Kino & TV | Side Effects – von Steven Soderbergh Wie bereits in seinem Klassiker Traffic (2000) verbindet Steven Soderbergh auch in seinem neuen Thriller Side Effects (2013) eine spannende Geschichte mit einer aktuellen gesellschaftskritischen Thematik. Beide Filme behandeln das Thema Drogen. In Traffic war es der Kokainkonsum, der in den USA bereits alle Gesellschaftsschichten erfasst und zum Aufblühen der lateinamerikanischen Drogenkartelle geführt hat. Side Effects behandelt den massiven Konsum ganz legaler Drogen, den Antidepressiva. Deren Verbreitung wird dem Film zufolge von einer skrupellosen Psychopharmaka-Industrie vorangetrieben, die selbst Therapeuten für ihre Zwecke kauft. Von GREGOR TORINUS

Die Unbeugsamen

Film | Fimfestival Mannheim-Heidelberg. Marine Place: Souffler plus fort que la mer Er habe, so Michael Kötz, künstlerischer Direktor des Fimfestivals Mannheim-Heidelberg, in seiner Begrüßung zur Aufführung von Souffler plus fort que la mer, nicht damit gerechnet, daß der kapitalismuskritische Film überhaupt noch lebe. Doch hier sei der Beleg für dessen Existenz. Er habe sich zwar geändert, sei poetischer geworden. Aber er lebe. Von DIDIER CALME