Film | Im Kino: Youth, Israel 2013; Filmstart 23. Januar
»Kaum zu glauben, dass Nessie schon in der ersten Klasse ist.« – »Ist nicht wahr.« – »Kommt mir vor wie gestern, als ich in die Schule musste, weil du hingefallen warst. Weißt du noch?« – »Ach, Mama, jetzt nicht noch mal die Story.« – »Sag bloß, ihr kennt sie. Echt? Hab‘ ich die schon mal erzählt?« usw. usf. ad inf. Das sind so die Gespräche bei Familientreffen. Man will feiern, dass Jakie (Eitan Cunio) sich für die Armee hat rekrutieren lassen. Von WOLF SENFF
Der Firnis der Zivilisation wird rissig und blättert. Staatliche Ordnung ist morbide, sozialer Zusammenhalt löst sich auf. Mittlere Einkommensschichten werden systematisch und kaltblütig entsorgt. Politik sieht tatenlos zu, wie sich die oberen Zehntausend skrupellos bereichern. Das ist einheitlicher Zustand in den einst wohlhabenden westlichen Industrienationen. Die Tatsache, dass Israel da keine Ausnahme bildet, wird in unserer schönen bunten Medienwelt nur zögerlich weitergegeben.
Szenen sozialen Abstiegs
Der Vater in dieser israelischen Familie ist arbeitslos, er trinkt mit einem befreundeten Nachbarn und spricht davon, eine Gebrauchtwagenhandlung zu eröffnen. Was die Mutter verdient, reicht nicht. Die Zwillinge Shaul (David Cunio) und Jakie halten im Schutzraum des Kellers ein entführtes Mädchen gefangen, sie verlangen einhundertfünfzigtausend Dollar Lösegeld, haben jedoch Probleme, den Kontakt zu dessen Familie herzustellen, in der – großbürgerlich dogmatischer Habitus – am Sabbat niemand zum Telefon greift.
Die jungen Leute kommen einander näher. »Wieviel Giga hat der Ipod?« und: »Auf den Scheiß fährst du ab?« Der Ton wird freundlich: »Bist du jetzt bereit für den Knebel?« – »Kann ich erst noch etwas Wasser haben?«, und aus einzelnen Sequenzen darf man gar Zärtlichkeit lesen. Schön zu verfolgen, dass die rüde Aggressivität erwachsener Vorbilder sich auf die Welt der Jugendlichen nicht eins zu eins abbildet.
Interessengesteuerte Heuchelei
Wir sehen lange Einstellungen, Youth ist wohltuend ruhig gedreht (Regie: Tom Shoval). Einzelne Szenen, in denen Shaul oder Jakie der Faden reißt – Thema: aggressive junge Männer –, wirken desto eindringlicher. Sie finden von sich aus zurück oder sie geben sich gegenseitig Halt, sie konkurrieren auch miteinander. Im eigentlichen Sinne ist Youth ein Film über diese beiden Brüder und entwickelt sehr behutsam eine vielschichtige Beziehung, es geht – wer ein Schlagwort lesen möchte – um Initiation bzw. coming of age. Nein, Shaul und Jakie haben keine Hilfestellung, kaum jemand steht ihnen brüderlich zur Seite – ein Sachverhalt, der letztlich auch die dogmatische Religiosität des Landes als interessengesteuerte Heuchelei denunziert.
Wir durften in den vergangenen Jahren einige überzeugende Filme aus Israel sehen: Die Band von nebenan (2007), Eyes wide open (2009), An ihrer Stelle (2012); sie lassen hoffen, dass sich das Land weiterhin kulturell öffnet, hinreichend Kraft findet und letztlich auch politisch die selbstgewählte, hochaggressive Wagenburg-Position verlässt.
| WOLF SENFF
Titelangaben
Youth (Israel 2013)
Regie: Tom Shoval
Kinostart 23. Januar