Die große Verdrängung

Comic | Volker Reiche: Kiesgrubennacht

Die Zeitzeugen sterben aus, von den Nazis und Hitlers Krieg bleiben allmählich nur noch Erinnerungen der Nachgeborenen. Volker Reiche experimentiert in seinem Comic Kiesgrubennacht mit solchen Erinnerungen innerhalb seiner Familie – und den Lücken darin. Ein beeindruckender, aber dennoch nicht ganz geglückter Versuch, findet ANDREAS ALT.
Kiesgrubennacht
Den Zweiten Weltkrieg hat Volker Reiche nicht mitbekommen: bei Kriegsende war er gerade ein Jahr alt. Trotzdem haben Krieg und Nationalsozialismus auf sein Leben offensichtlich erheblichen Einfluss genommen, denn sein Vater war Kriegsberichterstatter, fotografierte und schrieb Gedichte als Huldigung an die Nazi-Ideologie. Hat der Vater dem Sohn etwas davon mitgegeben? Was könnte ihn geprägt haben, ohne dass es Reiche bewusst wurde? In jungen Jahren ist er diesen Fragen ausgewichen, hat sich als Angehöriger der 68er-Generation von seinem Elternhaus konsequent distanziert. Nun, da nur noch Kindheitserinnerungen übrig sind, hat er sich dazu durchgerungen, den Fragen auf den Grund zu gehen – in einem der ersten im Suhrkamp Verlag veröffentlichten Comics, natürlich als Graphic Novel etikettiert.

Reiche hat einst Donald Duck und Mecki gezeichnet, hatte in den vergangenen Jahren großen Erfolg mit dem FAZ-Zeitungsstrip Strizz, ist also ein versierter Handwerker, war aber auch viele Jahre in der Underground-Szene aktiv, wo er sich gegen Atomkraft und für politische Mitbestimmung engagierte (Hinz & Kunz Comix). Nebenbei malt er in expressionistischem Stil. In Kiesgrubennacht nun verwendet er einerseits den schnellen, groben Zeichenstil des täglichen Zeitungsstrips, arbeitet andererseits inhaltlich mit einer recht verwickelten Konstruktion von Rückblenden in seine Kindheit und Reflexionen darüber.

Anschauliche Erlebnisse aus Kindersicht

Reiches Erinnerung setzt 1948 ein, als er vier Jahre alt war. Dem Leser wird die unmittelbare Nachkriegszeit lebhaft nahegebracht, denn der Autor versteht es, Alltagserlebnisse eines Kindes anschaulich und detailreich zu schildern. Dennoch ist es wirklich die Sichtweise eines Kindes: Dass die Reiches, ein Ehepaar mit fünf Kindern, heimatvertriebene Ostpreußen sind, wird erst allmählich klar, weil es für den Vierjährigen ohne Bedeutung ist. Der Vater arbeitet anfangs als Vertreter und ist daher häufig abwesend.

Später zeigen sich Spannungen zwischen den Eltern. Die Mutter hält dem Vater vor, es zu nichts gebracht zu haben, aber anderen Frauen nachzusteigen, er reagiert darauf mit körperlicher Gewalt. Auch das wird in dem Comic sehr authentisch vorgeführt, inklusive der Unfähigkeit der Kinder, die wiederkehrenden Konfliktsituationen einzuordnen und damit umzugehen. Sie lieben den Vater ebenso wie die Mutter, auch wenn er sie bisweilen blutig prügelt.

Reiche traut seinen Erinnerungen nicht

So klar die Kindheitsepisoden vor Augen stehen – Reiche traut seinen Erinnerungen nicht. Letztlich zweifelt er daran, ob er den Vater, der dann Amtsrichter wurde, objektiv beurteilen kann. Wie das in der Erlebnisgeneration üblich war, spricht der so gut wie nie über die Nazizeit, nur manchmal scheint in seinem Verhalten offenbar etwas von seiner Vergangenheit durch. Reiche erörtert das übrigens in sehr unterhaltsamer Form mit Funnyfiguren aus seinem Strizz-Strip: dem Kater Herrn Paul, dem Dackel Müller und dem Wachhund Tassilo.

Schwer zu kauen hat der Zeichner, wie in den Konversationen deutlich wird, an dem Verdacht, etwas von der Gesinnung des Vaters übernommen zu haben. Er spielt gern Ballerspiele am Computer, bevorzugt, wenn dabei Hunderte tote Spielfiguren auf der Strecke bleiben. Hat er damit den womöglich ererbten Nazigeist auf eine andere Ebene übertragen? Eines der Vater-Gedichte hat er in wilde Ölbilder übertragen, ebenso die titelgebende Kiesgrubennacht.

Kein Gespräch mit dem Vater möglich

Die Kiesgrubennacht steht für eine Massenhinrichtung im Krieg, die mit dem Vater irgendwie in Verbindung steht. War er damals Beobachter des Geschehens oder hat er sich daran beteiligt? Wie hat er sich überhaupt verhalten? Reiche weiß darüber nichts; die Episode scheint nur als Gerücht in der Familie zu existieren. Am Ende des Buchs springt er aus den 1950er Jahren ins Jahr 1973. Als knapp 30-Jähriger besucht er noch einmal seinen Vater, der inzwischen geschieden ist und mit einer anderen Frau zusammenlebt und den er seit Jahren nicht mehr gesehen hat. Er will wissen, was hinter der Kiesgrubennacht steckt, aber er schafft es nicht, mit dem Vater überhaupt ein Gespräch anzuknüpfen. Die Kriegsereignisse bleiben ihm völlig unzugänglich.

Die Mutter fällt indes dem Zeitsprung zum Opfer. Knapp trägt Reiche nach, dass sie nach der Scheidung dem Alkohol verfiel und relativ früh, 1974, starb. Er kam mit ihrem Alkoholismus nicht klar und hielt sich, nachdem er anscheinend früh das Elternhaus verlassen hatte, auch von ihr völlig fern. Die Mutter war im »Dritten Reich« Gauleiterin im Bund Deutscher Mädel und damit zumindest Mitläuferin gewesen. Im gesamten Comic bleibt sie aber konturlos. Sie war Ärztin, praktizierte aber offenbar kaum. Ihre Rolle beschränkt sich darauf, die Familie zusammenzuhalten.

Gegenentwurf zu Spiegelmans Maus

Kiesgrubennacht kreist gleichsam um ein riesiges schwarzes Loch. Das Werk ist ein Gegenentwurf zu Art Spiegelmans Maus. Spiegelmans Vater war Jude und Nazi-Opfer, Reiches Vater eher ein Täter. Spiegelman bringt seinen Vater mit einigen Mühen zum Reden und gewinnt dadurch ein neues Verhältnis zu ihm. Reiches Vater ist bereits tot und hat nie geredet. Maus ist ein vielfach ausgezeichnetes Lehrstück über die Judenverfolgung. Und Kiesgrubennacht? Da Reiche unsicher ist, ob er sich seine Kindheit überhaupt richtig vergegenwärtigt, verzichtet er auf eine Rekonstruktion der Vergangenheit. Das ist eine ehrliche und ehrenwerte Haltung, bleibt aber für den Leser unbefriedigend.

Will man in Reiches Graphic Novel einen Nutzen erkennen, dann liegt der eher darin, sich mit einer sehr wirkungsvollen Erzähltechnik auseinanderzusetzen. Dabei wird Reiche, der die dunkle Vergangenheit seines Vaters entschlüsseln will, gleichsam auf sich selbst zurückgeworfen. Manches findet er darüber heraus, auf welchem Weg er zum Künstler (als der er sich betrachtet) geworden ist. Überraschendes Nebenprodukt einer großen Verdrängung.

| ANDREAS ALT

Titelangaben
Volker Reiche: Kiesgrubennacht
Berlin, Suhrkamp Verlag 2013
232 Seiten, farbig, 21,99 Euro

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