/

Relikte aus dem Kalten Krieg

Krimi | Oliver Harris: London Underground

Nach London Killing (Blessing 2012), dem hochgelobten Debüt des britischen Autors Oliver Harris (Jahrgang 1978), liegt jetzt mit London Underground der zweite Fall für Detective Nick Belsey auf Deutsch vor. Diesmal bekommt es der Mann mit der dunklen Seite seiner Heimatstadt zu tun, muss hinunter in Schächte, geheime Atombunker und vergessene Bahnstationen, um eine Rachegeschichte aufzudecken, die zurückreicht bis in die Hochzeiten des Kalten Kriegs. Spannend, wendungsreich und aktueller, als man denkt. Von DIETMAR JACOBSEN

London UndergroundNick Belsey ist wieder da. Der Mann, der so gar nicht zum Bild des aufrechten Kämpfers gegen das Verbrechen passen will. Der immer noch keinen richtigen Wohnsitz, eine viel zu junge Geliebte und eine allzu lockere Moral für einen Polizisten besitzt. Und weil dieser Mix aus nicht unbedingt karrierefördernden Eigenschaften ihn ständig in Situationen bringt, in denen er nicht auf die Unterstützung durch Seinesgleichen hoffen darf, weiß der Leser auch sofort, was ansteht, wenn ihn zu Beginn des Romans London Underground eine wilde Verfolgungsjagd in ein verschlungenes Tunnelsystem tief unter Londons Straßen und Plätzen führt. Gewaltiger Ärger nämlich.

Denn Belsey, von dem unheimlichen Labyrinth fasziniert, will seine Freundin Jemma mit einem Picknick unter dem Pflaster überraschen – wo findet man in der Weltstadt London auch romantischere Locations für ein Stelldichein mit allem Drum und Dran? Allein das Rendez-vous geht gewaltig in die Hose. Die junge Frau verschwindet und Belsey sieht sich plötzlich einem Entführer gegenüber, der mit ihm zu spielen scheint und ihn dabei immer tiefer in Abgründe lockt, die zu kennen und zu durchschauen lebensgefährlich sein kann.

Rendez-vous unter Londons Pflaster

London Underground führt seinen Protagonisten in ein Schattenreich, das entstand, um Großbritannien im Falle eines Atomkriegs nicht im Chaos versinken zu lassen. Die unterirdischen Schlafsäle, Vorratskammern, Medikamentendepots, Führungsbunker und Verbindungstunnel samt den über die ganze Stadt verteilten Einstiegen in diese andere Welt entstanden einst in dem Glauben, man könne eine atomare Auseinandersetzung der Systeme überleben. Zumindest die für das Weiterfunktionieren von Staat und Regierung wichtigen Organe und Personen sollten, unter die Erde verbracht und mit allem Lebenswichtigem auf Jahre versorgt, in der Lage sein, dem Land nach dem Krieg wieder Strukturen zu geben und den Wiederaufbau organisiert anzugehen.

Dass man die tatsächlichen Folgen eines Atomkriegs bei all diesen Planspielen, die den Tod von Millionen Menschen zynisch einkalkulierten, komplett unterschätzte, weiß man inzwischen längst. Doch bei seinen Nachforschungen stößt Nick Belsey immer wieder auf Beweise dafür, dass auch nach dem Ende des Kalten Krieges, ja bis in die 90er Jahre noch, staatlicherseits die Funktionalität dieser Anlagen aufrechterhalten wurde – Zeichen für eine tief sitzende Angst, die auch nach der Neuordnung Europas nicht einfach verschwand.

Einer allein gegen alle

Nach und nach erschließt sich Harris‘ Helden die Geschichte jener Katakomben, in denen er seine entführte Freundin vermutet. Dass er sich bei der Suche nach Jemma auf niemanden verlassen kann und sich mit Kräften anlegt, die das Geheimnis dieser Stadt unter der Stadt um keinen Preis öffentlich werden lassen wollen, bringt ihn von einer Gefahrensituation in die nächste. Vertrauen kann er am Ende nur noch auf sich selbst und die zunehmende Gewissheit, dass es sich bei dem Entführer nicht um einen simplen Psychopathen handelt, sondern um einen Mann, der eine Rechnung begleichen will, die ausgestellt wurde, als man in den 80ern in London den atomaren Ernstfall probte.

London Underground ist gut recherchiert, nimmt seinen Leser mit zu geheimnisvollen Orten, wo die Zeit stillzustehen scheint, und punktet mit einem ungewöhnlichen Helden, dem man gerne in einem weiteren Buch wiederbegegnen möchte.

| DIETMAR JACOBSEN

Titelangaben
Oliver Harris: London Underground
Aus dem Englischen von Gunnar Kwisinski
München: Karl Blessing Verlag 2014
446 Seiten. 19,99 Euro

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Lauerndes

Nächster Artikel

Erlesene Tage

Weitere Artikel der Kategorie »Krimi«

Detektive sind wieder in

Roman | Lisa Sandlin: Ein Job für Delpha 14 Jahre hat Delpha Wade im Gefängnis von Gatesville/Texas gesessen. Und während dieser Zeit die Beatles, die Beach-Boys, die Supremes und Gott weiß noch welche Superband der goldenen sechziger Musikjahre verpasst. Nun ist sie wieder draußen und sucht einen Job. Man schreibt das Jahr 1973 und mithilfe ihres eifrigen Bewährungshelfers kommt Delpha in einem eben gegründeten Detektivbüro unter. Klar, dass da die Probleme nicht lange auf sich warten lassen. Von DIETMAR JACOBSEN

Im Labyrinth aus alten Schatten

Krimi | Friedrich Ani: Der namenlose Tag. Ein Fall für Jakob Franck Deutscher Krimipreis 2016 Friedrich Anis Kriminalromane sind in gewisser Weise einzigartig. Ob ihre Helden Tabor Süden, Polonius Fischer oder Jonas Vogel heißen – stets werfen sie sich mit ihrer ganzen Person in den aufzuklärenden Fall. Machen ein fremdes Dasein zum eigenen, um dessen Verschwiegenheiten und Geheimnissen auf die Spur zu kommen. Selbst führen diese Männer ein eremitisches, einsames Leben, auch wenn sie einmal verheiratet waren und Kinder haben. Das aber stärkt noch ihrer aller ausgeprägte Fähigkeit, sich in Menschen zu versetzen, die sich vor der Welt und ihren

Von Tod und Tofu

Roman | Christine Lehmann: Allesfresser Lisa Nerz ohne ihre berühmte Lederjacke? Da muss etwas ganz Besonderes geschehen sein. Ist es auch: Im Internet wird zum Mord aufgerufen. Tod denen, die töten! Denn: »Tiere zu essen ist nicht weit vom Kannibalismus entfernt.« Und warum sollte der, der den Tod von Millionen Kreaturen gutheißt, nicht ebenfalls über den Jordan geschickt werden? Christine Lehmann ist mit ihrem elften Lisa-Nerz-Krimi wieder ein provokantes Stück Literatur gelungen. Nach seiner Lektüre schaut man die Fleischpakete im Supermarkt jedenfalls mit anderen Augen an. Von DIETMAR JACOBSEN

Das Geld wird knapp, man sieht’s mit Bedauern

Film | Im TV: Tatort 900 – Zirkuskind (SWR), 16. Februar »Phönizische Kunst, ungefähr fünftes bis drittes Jahrhundert vor Christi. Wenn die Funde aus dieser Epoche stammen und so gut erhalten sind, reden wir wohl über mehrere Hunderttausend Euro.« Weshalb werden eigentlich für steinalte, halb zerdepperte Gegenstände dermaßen hohe Beträge hingeblättert? Bestimmt hat jemand, weil Denken oft hilft, mal darüber nachgedacht. Von WOLF SENFF

Landnahme

Roman | Oliver Bottini: Der Tod in den stillen Winkeln des Lebens Der Tod einer jungen Frau steht am Beginn von Oliver Bottinis neuntem Roman ›Der Tod in den stillen Winkeln des Lebens‹, der mit dem Deutschen Krimi-Preis 2018 (national) ausgezeichnet wurde. Zu Recht, den dieser Roman ist ein großes Leseerlebnis, findet DIETMAR JACOBSEN