/

Zwischen Rebellion und Tradition

Menschen | Vor 25 Jahren starb der bedeutende Dramatiker Heiner Müller

Lange fehlte ihm sowohl eine geografische wie eine politische Heimat. In der DDR war er schon in jungen Jahren mit dem SED-Regime überkreuz, im Westen wurden zwar seine Stücke gespielt, doch er galt im politischen Establishment als marxistischer Rebell. Erst nach dem Mauerfall wurde der bedeutende Dramatiker, Schriftsteller, Essayist und Theatermacher Heiner Müller heimisch, nachdem er 1992 gemeinsam mit Peter Zadek, Matthias Langhoff, Peter Palitzsch und Fritz Marquardt die Leitung des Berliner Ensembles übernommen hatte. Kürzlich wurde sogar ein Drehbuch-Fragment aus Müllers Feder entdeckt. Der Text ›Myer und sein Mord‹ erschien nun erstmals in der Dezember-Ausgabe von ›Theater der Zeit.‹ Von PETER MOHR

Heiner Müller
ADN-ZB Link 4.11.89 Berlin: Demonstration
500.000 Bürger beteiligten sich an einer Demonstration für den Inhalt der Artikel 27 und 28 der Verfassung der DDR. Auf dem anschließenden Meeting auf dem Alexanderplatz ergriff auch der Dramatiker Heiner Müller das Wort.
»Müllers dramatisches Werk vereint in der schmerzenden Wut einer bildkräftigen Sprache Rebellion und Tradition«, hieß es im Oktober 1985 in der Laudatio zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises an den Dramatiker aus der ehemaligen DDR. Für Rebellion standen seine bis zuletzt undogmatisch marxistische Gesinnung und seine frühen (realistischen) Stücke; für Tradition stand seine große Affinität zu Shakespeare und zur griechischen Antike.

Klassische Vorlagen erhielten durch Müllers eigenwillige Bearbeitung nicht selten eine neue Gestalt: Höllengemälde, in denen schaurige Untergangsvisionen zelebriert werden, mit Gewalt als fundamentalem Handlungselement. So geschehen 1985 bei der Uraufführung von ›Anatomie Titus Andronicus Fall of Rome‹ in Bochum, einer Müllerschen Bearbeitung des selten gespielten Shakespeareschen Rachedramas ›Titus Andronicus‹.

Dass dieses Stück ausgerechnet im Bochumer Schauspielhaus auf die Bühne kam, war kein Zufall. 1967 wurde im Haus an der Königsallee zum ersten Mal ein Heiner-Müller-Stück in der Bundesrepublik aufgeführt. Seitdem war der Dramatiker, der am 9. Januar 1929 im sächsischen Eppendorf als Sohn eines von den Nazis verfolgten SPD-Funktionärs geboren wurde, zum meistgespielten, wenn auch nicht meistgeliebten (zeitgenössischen) deutschen Bühnenautor der Nachkriegszeit avanciert.

Quer durch Europa (Paris entwickelte eine riesige Sympathiewelle) und sogar in den USA galten Heiner Müllers Stücke als »in«. Schon in den 1950er Jahren begann Müller, dessen favorisierte Autoren in dieser Zeit Schiller, Hebbel und Poe waren, Theaterstücke zu schreiben. Seine frühen Stücke ›Der Lohndrücker‹ (1956), ›Die Korrektur‹ (1957) und ›Die Umsiedlerin‹ (1961) behandelten reale Probleme der »sozialistischen Entwicklung« in der ehemaligen DDR. Der Dissens mit der SED war dabei vorprogrammiert. Die Stücke wurden in der DDR von den Spielplänen gestrichen und der Autor aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen.

Die meisten Werke, die sich mit realen Begebenheiten des Sozialismus auseinandersetzten, kamen in der DDR erst auf die Bühne, als die Inhalte, vom Staub überzogen, zur unprekären Historie geworden waren. Erst 1986 erhielt er aus den Händen von Erich Honecker für sein künstlerisches Werk den Nationalpreis der DDR.

Seine eigentliche Karriere als Dramatiker nahm jedoch im Westen ihren Lauf, wo die Extravaganz seiner Arbeiten von der Kritik als großes Theaterereignis gefeiert wurde. Von neuer Ästhetik war sogleich die Rede. Müllers Theatererfolge in den frühen 1970er Jahren waren natürlich auch ein Politikum, ein Vorzeigebeweis dafür, dass in der Bundesrepublik auch marxistische Künstler zu großen Ehren gelangen konnten.

Doch die Dankbarkeit des Autors hielt sich in Grenzen. »Ich glaube, dass die Bundesrepublik keine autochthone Kultur hat. Die kulturellen Impulse kommen im wesentlichen aus Österreich und der DDR, also von außen«, bekannte der Dramatiker in den frühen 1980er Jahren. Quer denken, das war Müllers Lebensmaxime. Er stand nicht nur dem Vereinigungsprozess äußerst skeptisch gegenüber, sondern empfand auch »keinerlei Schuldgefühle«, wenn er auf seine Stasi-Kontakte angesprochen wurde.

Nach der »Wende« war Müller fast nur noch als Regisseur tätig. Aber auch in dieser Rolle – man denke an die Bayreuther Festspiele – bevorzugte er den Bruch mit den Konventionen. Für seine eigenen schriftstellerischen Arbeiten schienen ihm die Stoffe ausgegangen zu sein. »Man weiß nicht mehr genau, an was man sich reiben soll. Mit ausgemachten Feindbildern lässt es sich im Theater besser leben«, bekannte der Dramatiker wenige Monate vor seinem Tod. Am 30. Dezember 1995 ist Heiner Müller – eine der schillerndsten und streitbarsten Figuren des deutschen Nachkriegstheaters – in Berlin (neun Tage vor seinem 67. Geburtstag) an einem Krebsleiden verstorben. Am 15. September wurde in diesem Jahr an seinem letzten Wohnort in der Muskauer Straße 24 im Berliner Stadtteil Kreuzberg eine Gedenktafel enthüllt.

| PETER MOHR
| Titelfoto: Bundesarchiv, Bild 183-1989-1104-047 / Link, Hubert / CC-BY-SA 3.0, Bundesarchiv Bild 183-1989-1104-047, Berlin, Demonstration, Rede Heiner Müller, CC BY-SA 3.0 DE

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Asche in zwei Urnen

Nächster Artikel

Französische Küchengeheimnisse

Weitere Artikel der Kategorie »Menschen«

A Time For Rebirth: An Interview With Jazzuelle

Music | Bittles’ Magazine: The music column from the end of the world Sometimes it feels like I am alone in thinking that house music should be sexy, sultry, and appeal to the heart and head as much as the feet. Recently I have become bored of clubs where you get accosted by drunken assholes, the dance floor is too jammed to permit the concept of personal space, while the night’s soundtrack is a limited palette of frantic, functional techno beats. Now, maybe it’s because I am getting a little older, but when I go out I want to hear

»Kunst muss endlich definiert werden!«

Menschen | Kunst: Interview mit Timo Dillner (Teil I) Timo Dillner ist Künstler. Und der Meinung, die ewige Frage, was als Kunst gelte und was nicht, verdiene endlich eine klare Antwort. Im ersten Teil unseres Interviews mit dem Künstler fragt FLORIAN STURM nach dem Wesen der Kunst.

Stillezufuhr in der Picardie

Menschen | Zum 75. Geburtstag des Schriftstellers Peter Handke Peter Handke liebt das Extreme. Mit seinem umfangreichen literarischen Werk und seinen spektakulären öffentlichen Auftritten hat er stets – und dies bewusst – polarisiert. Reichlich Aufsehen erregte er auch durch seine (kaum nachvollziehbare) Nähe zum serbischen Diktator Slobodan Milosevic. Zum seinem 75. Geburtstag am 6. Dezember erschien das opulente Epos ›Die Obstdiebin‹. Von PETER MOHR

Delving Into the Honley Civic Archives: An Interview With Thomas Ragsdale.

Music | Bittles’ Magazine: The music column from the end of the world Thomas Ragsdale is an artist whose work bristles with personality and emotion. As anyone who has been won over by releases such as Bait, Dear Araucaria or Under Dwellers will attest, he is a rare breed of producer who creates music which disregards genres or easy pigeonholing. Atmospheric soundscapes, dub drenched nightmares, delicate melodies and more can be found within his meticulously crafted grooves. By JOHN BITTLES.

»Berühmt werden – etwas anderes wollte ich nie«

Menschen | Zum 80. Geburtstag des Oscar-Preisträgers Anthony Hopkins am 31. Dezember »Eine 80 Jahre alte Maschine muss ständig gut geölt sein, sonst rostet sie ein.« Er öle seine Maschine »mit Musik, mit Malerei, mit meiner Arbeit«, hatte Chopin-Liebhaber Anthony Hopkins vor einigen Wochen in einem Interview mit der ›Bild am Sonntag‹ erklärt. Von PETER MOHR