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Ein Journalist und Literat

Biografie | Christian Buckard: Egon Erwin Kisch – Die Weltgeschichte des rasenden Reporters

Die Kaffeehäuser der Welt waren sein zu Hause, doch wo immer er auch war, um davon zu berichten, sein Herz gehörte allein der Stadt, in der er zur Welt kam: Prag. Seine Reportagen machten ihn weltbekannt. Sein großes Vorbild war der französische Schriftsteller und Journalist Émile Zola. In Prag wurde er zum Lokalreporter, in Wien zum Kommunisten und vom Berlin der 20iger Jahre aus bereiste er die Welt. Von DIETER KALTWASSER

Ein Foto von Kisch - der Journalist steht am Ufer eines Meeres und raucht eine Zigarette.Egon Erwin Kisch wuchs in einer deutschsprachigen Familie auf. Egonek, wie er von seinen Verwandten und Freunden genannt wurde, war der zweitälteste der »fünf Söhne von Ernestine und dem so erfolgreichen wie angesehenen Tuchhändler Hermann Kisch«, erfahren wir von seinem Biografen. Sein ursprünglicher Name war Egon Kisch, den zweiten Vornamen Erwin verwendete er erst später. Die Familie wohnte in einem Renaissancehaus »Zu den zwei goldenen Bären«.

Der Journalist und Filmemacher Christian Buckard erzählt in seiner neu erschienenen Biographie ›Egon Erwin Kisch – Die Weltgeschichte des rasenden Reporters‹ in 30 Kapiteln umfassend über das Leben und Wirken des Erfinders der literarischen Reportage, des Prager Juden und Kommunisten, der ein Freund von Franz Kafka und Max Brod war. Eine herausragende Biografie, die durch Detailreichtum und Luzidität besticht und dem Leser einen tiefen Einblick in das Leben und den Reifeprozess des journalistischen und literarischen Schreibens von Egon Erwin Kisch eröffnet.

Er war als Bürgersohn ein Kind der Belle Époque, als er in der Prager Altstadt am 29. April 1885 das Licht der Welt erblickte. Schon den jungen Mann zog nichts mehr an als die Schreibmaschine, »auch nicht seine Entscheidung, ab Oktober 1904 den »Einjährig-Freiwilligen« Militärdienst zu absolvieren«. Während seines Militärdienstes schaffte er es angeblich, »147 Tage in der Arrestzelle zu verbringen.«
Die Tage und Nächte hinter Gitter seien für ihn eine besondere »Universität« gewesen, erfahren wir von seinem Biografen: »Viel von seiner später gezeigten erstaunlichen Fähigkeit, sich ungeachtet seiner bürgerlichen Herkunft wie ein Fisch im trüben Wasser der Prager und Berliner Unterwelt zu bewegen, hat hier seinen Anfang genommen.«

1903 begann er ein Studium an der ›Journalistenhochschule zu Berlin‹, die erste ihrer Art in Deutschland; Kisch beendete das Studium nach sechs Monaten. Sein Biograph schreibt hierzu: »Ob er der Ansicht war, dass man ihm dort ohnehin nichts mehr beibringen könne, oder ob er es in Berlin einfach nicht mehr ausgehalten hat, ist nicht überliefert.« Bis 1913 arbeitete er als Lokalreporter für die ›Bohemia‹, einer Tageszeitung in Prag. In dieser Zeit entwickelte sich sein Reportagestil, der sich durch distanzierte Sachlichkeit auszeichnete. In der ›Bohemia‹ begann er eine Reportage-Serie über einen Aufenthalt in London – es ist seine erste umfangreichere Arbeit über einen Auslandsaufenthalt.

In einer Reportage deckte Kisch 1913 die Spionagetätigkeit des Generalstabsoffiziers Alfred Redl auf. Unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs entwickelte er eine zunehmend politische Moral; sein ›Kriegstagebuch‹ gibt Aufschluss darüber. Im Ersten Weltkrieg wurde er schwer verwundet und 1916 ins österreichisch-ungarische Kriegspressequartier in Wien abkommandiert, wo u.a. auch Robert Musil, Franz Werfel, Rainer Maria Rilke, Peter Altenberg und Stefan Zweig tätig waren.

In dieser Zeit lernt er auch Gisela (Gisl) Lyner kennen, seine spätere Ehefrau. Im Mai 1921 zieht Kisch nach Berlin um und begegnet im Romanischen Café Jarmila Haasová, die seine Freundin und Vertraute wird. Er schreibt in den folgenden Jahren für diverse Berliner Medien. Es begann die Zeit seiner Reisen durch alle Kontinente; nicht nur über Europa, sondern auch über die Sowjetunion, die USA, China und Australien hat er in seinen Reportagen berichtet.

Die gesammelten Reportagen ›Der rasende Reporter‹ von Kisch erschienen 1925. Diese wie auch die ›Hetzjagd durch die Zeit‹ (1926) und ›Wagnisse in aller Welt‹ (1927) zeigen bereits Ansätze einer kritischen und reflektierenden Darstellung der Wirklichkeit. Zielen die Berichte im ›Rasenden Reporter‹ noch auf die Sensationslust eines bürgerlichen Lesepublikums, so ändern sich seine politischen Einstellungen im Zuge der radikaler werdenden politischen Verhältnisse am Ende der Weimarer Republik; er schreibt nun als dezidiert marxistischer Publizist.

Nach der Machtergreifung der Nazis 1933 und dem Reichstagsbrand wird Kisch am Morgen des 28. Februar verhaftet, aber nach zwei Wochen durch die Intervention der Tschechoslowakei nach Prag abgeschoben. Im Juni des gleichen Jahres flieht er nach Paris, wo er in der ›Internationalen Arbeiter-Hilfe‹ sowie im ›Schutzverband Deutscher Schriftsteller im Exil (SDS)‹ mitarbeitet. Kisch nimmt auch am Spanischen Bürgerkrieg teil. Nach dem Münchner Abkommen von 1938 führt sein Weg über die USA nach Mexiko ins Exil.

»Im Fall des Mitte der dreißiger Jahre begonnenen und 1943 publizierten Buchs ›Marktplatz der Sensationen‹ hat man es noch mit dem Werk eines Journalisten und schon mit dem eines Schriftstellers zu tun, der mit einer gewissen Geringschätzung auf die meisten seiner früheren Texte zurückblickt und unbedingt ein Werk schaffen möchte, das seinen Ansprüchen an ›gute Literatur‹ entspricht«, schreibt sein Biograf, für den Kisch der Vater der literarischen Reportage in deutscher Sprache ist. Billy Wilder nannte Egon Erwin Kisch den »Thomas Mann der Reportage«.

Im Oktober 1938 heiratet er Gisela Lyner. Als Kommunist an vielen Orten eine unerwünschte Person, strandet er im Jahr 1940 schließlich in Mexiko, damals ein Fluchtpunkt vieler deutscher Intellektueller in der Emigration. Im März 1945 hatte er vom Tod seiner Brüder Arnold und Paul erfahren. Arnold Kisch war 1942 im Ghetto Litzmannstadt umgekommen, Paul Kisch wurde am 12. Oktober 1944 in Auschwitz ermordet.

Seine vorher unermüdliche Kraft und journalistische Neugier lässt nach und von Heimweh getrieben kehrt ein müde gewordener Weltenbummler 1946 nach Prag zurück: »Die mörderischen Jahre der deutschen Besatzung hatten aus seiner Heimatstadt, wo der ›goldene Egonek‹ früher kaum einen Schritt gehen konnte, ohne von Freunden, Bekannten oder Fremden herzlich gegrüßt zu werden, eine Geisterstadt gemacht.«: »Prag ist voll von Freunden, die nicht mehr leben, jedes Haus, jede Straßenecke drängt Tränen in die Augen.« Er ist ein gebrochener Mann, erschüttert über die Zerstörung seiner jüdischen Welt in Prag. Nach zwei Schlaganfällen stirbt Egon Erwin Kisch am 31. März 1948.

| DIETER KALTWASSER

Titelangaben
Christian Buckard: Egon Erwin Kisch – Die Weltgeschichte des rasenden Reporters
Die Biografie
Berlin: Berlin Verlag 2023
448 Seiten, 28 Euro

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