Bei Ferienlagern scheiden sich die Geister. Die einen geraten in Entzücken, die anderen sind bei der puren Vorstellung entsetzt. Kemi gehört zu letzteren und berichtet von einer Woche im Wald. Von ANDREA WANNER
Kemi – seinen Namen verrät der Ich-Erzähler im allerletzten Satz der Geschichte – bereitet gern mit seiner alleinerziehenden Mutter Salat zu, liest gern und viel, führt gerne Gespräche über die Börse, wobei er sie, orientiert am Thema, nahezu ausschließlich mit Erwachsenen führt. Seine Situation in der Klasse bringt er treffend auf den Punkt: »Meine Reputation ist die von einem, der sich gern beschwert und der gern keine Lust auf nichts hat.«
Ein typischer Außenseiter, der aber seine Ruhe hat. Denn das Opfer in der Klasse ist Jörg. Wanderbegeistert, freundlich, abstehende, große Ohren, großes Zeichentalent: Nichts davon interessiert die anderen wirklich, er wird einfach gemobbt oder übersehen. Da begegnen sich zwei, die nicht dazugehören. Teilen sich ein Zimmer mit Stockbett, weil sich sonst keiner für sie interessiert. Treffen bei Aktivitäten immer wieder aufeinander, weil die anderen schon Gruppen und Grüppchen gebildet haben. Und klar wäre es jetzt ganz einfach vom Beginn einer wunderbaren Freundschaft zu erzählen. Zu einfach für einen Autoren wie Saša Stanišić. Der lässt lieber seinen Helden über diese Möglichkeiten nachdenken: Wie er sich auf die Seite des Gehänselten stellt, Partei ergreift, die Fieslinge in ihre Grenzen verweist – und diese Gedankenspiele auch schnell wieder verwirft. Kemi ist keiner, der sich engagiert.
Dunkle Träume
Aber so wirklich gut geht es dem Jungen nicht dabei. Weder mit seiner verweigerten Solidarität mit seinem Klassenkameraden noch mit seiner permanenten Antihaltung. Anstrengend ist das, vor allem, wenn man Tag und Nacht mit den anderen zusammensteckt und es kein Entkommen gibt. Die Betreuerinnen und Betreuer sind bemüht und schauen im entscheidenden Moment weg. Als erfahrene Pädagogen und Pädagoginnen haben sie wohl auch keine Lust auf zu viel Stress und finden, die jungen Leute sollen das alles mal schön unter sich ausmachen. Verweigerer wie Kemi kennen sie schon, lassen ihn – zu seinem Erstaunen und fast zu seiner Enttäuschung – in Ruhe. Bis auf den Koch. Mit seinem T-Shirt mit Totenkopf und seinen beiden Tätowierungen an den Schläfen, auf denen jeweils »Schläfe« steht, findet er irgendwie den richtigen Ton.
Das alles ist anstrengend. Tags, wenn gemeinsame Aktionen von Klettern bis Basteln auf dem Programm stehen und nachts, wenn Kemi träumt. Von einem Wolf, von dem man nicht so genau weiß, was er eigentlich will. Ob er gefährlich ist – sind das Wölfe nicht immer? Ob er sich Zugang zu den Räumen verschaffen kann? Ein Wolf, der einfach nur guckt. Und ausgerechnet Jörg, der das versteht.
Saša Stanišić wurde 1978 in Višegrad im ehemaligen Jugoslawien geboren und kam 1992 mit seinen Eltern nach Deutschland. Er schreibt Erzählungen und Romane, die in über 30 Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet wurden. Mit ›Hey, hey, hey, Taxi!‹ und ›Panda-Pand‹ schrieb er in den vergangenen Jahren Bücher für Kinder. Mit ›Wolf‹ legt er seinen ersten Jugendroman vor, in dem neben viel Witz auch viel Ernstes und Tiefgang zu finden sind. Er schenkt der Geschichte genau die Vagheit und Ambivalenz, die sie so glaubwürdig macht. Es wäre ein Leichtes gewesen, eine Freundschaft zwischen Kemi und Jörg herbeizuschreiben, so ist es eine zaghafte Annäherung.
Der Wolf, der für das Bedrohliche und Böse steht, symbolisiert auch das Scheue und Schlaue. Die in der Dunkelheit gelb leuchtenden Augen des Wolfes sind die prägenden Farben des Buches. Sie finden sich auf dem von Regina Kehn gestalteten Cover, das scherenschnittartig das Ferienlager mit einem Lagerfeuer zeigt, das »O« in Wolf wird zum fahlen Vollmond, der über der Szene schwebt. Auch im Buchinneren machen sich gelb-schwarze Zeichnungen breit, geben den zahlreichen Akteurinnen und Akteuren ein Gesicht.
Kehn lässt meisterhaft die von Kemi geschätzte Frau Tribeska ihre Salti auf dem Schwebebalken vollführen, den Koch in einen gelben Eimer kotzen oder Beate die Försterin wettern. Gelbe Schmetterlinge, allen voran der gelbwürfelige Dickkopffalter, fliegen über die Seiten und die eine oder andere Stechmücke, mit gelben Flügeln und einem fiesen Stachel ausgerüstet, Kemis spezielle Feinde. Und es gibt den Wolf, heulend als weißes Scherenschnittgenativ vor dem schwarzgelben Nachthimmel, weiß auf gelbem Grund mit gefährlichen Schlitzaugen, Schwarz in einer aufrechten Pose und in Gelb als freundlicher Aufpasser bei Nacht.
Alles ist in Bewegung, ändert sich. Die Figuren ihre Positionen, die Protagonisten ihre Haltung und Kemi seine Meinung, zumindest teilweise. Wölfe sind Rudeltiere, in manchen Lebensphasen sind sie Einzelgänger. Und bei Menschen ist das gar nicht so sehr viel anders.
Titelangaben
Saša Stanišić: Wolf
Mit Bildern von Regina Kehn
Hamburg: Carlsen 2023
192 Seiten, 14 Euro
Jugendbuch ab 11 Jahren
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