/

Ausgespielt

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Ausgespielt

Gramner habe das Thema satt, er würde sich darüber amüsieren, sagte der Ausguck, lachte, nahm kurz Anlauf und schlug einen Salto.

Sich so balanciert zu bewegen, so elegant, so scheinbar schwerelos, fragte Thimbleman, wie sei das möglich.

Der Ausguck lachte und erinnerte nur wieder an Gramners Worte: Eine Epoche tituliere sich als ›modern‹ und erwecke den Eindruck, alle früheren Zeitalter gehörten in die Mottenkiste.

Irre. Ein Marketing, das Maßstäbe setzt.

Man müsse sich, so erkläre es Gramner, sagte der Ausguck, vor Augen führen, was für eine Arroganz darin ausgedrückt sei, welche Menschenverachtung, verstehst du, und mehr noch, der Mensch jener Moderne fühle sich als ›Mensch‹ nicht länger zufrieden, sage Gramner, sondern werde sich kurzerhand zur Krone der Schöpfung erklären, zum ›Homo Sapiens‹, dem Höhepunkt eines angenommenen evolutionären Verlaufs seit Menschengedenken und weit, weit darüber hinaus bis zurück zu einem vermeintlichen Urknall.

Thimbleman streckte sich im Sand der Lagune lang aus und genoß die wärmende Sonne. Der Ausguck hatte eine wohltuende Stimme, ihm war gut zuzuhören.

Urknall?, fragte Thimbleman und erinnerte sich, daß es einen Urschrei gab und ob das der Beginn der Sprachen gewesen sein könnte.

Bei Null fange alles an, wie auch anders, sagte der Ausguck und lachte, da müsse sich die Welt eben zählen, messen und berechnen lassen, und was damit nicht erfaßt werde, sei halt nicht existent, sei gestrichen, denn das könne Wissenschaft nicht liefern, und die Idee mit dem Urknall sei das perfekte Narrativ zum ›Homo Sapiens‹.

Spitzenmäßig, spottete Thimbleman, wer habe sich das ausgedacht, umwerfend, eine phantastische Operette, genial, der letzte Schrei.

Die Dinge würden kippen, ausnahmslos, sage Gramner, im Grunde begännen sie jetzt zu kippen, die Moderne habe bereits eingesetzt, auch durch die Goldgräberei, gewiß, aber vor allem doch mit der Ablösung der Windjammer durch die Dampfschiffahrt, der Hochmut komme gewöhnlich vor dem Fall, das Maschinenwesen breite sich aus, und es sei unfaßbar, daß ein gastfreundlicher Planet so unverhohlen aggressiv geplündert werde, der Mensch sich als Erfüllungsgehilfe andiene, keine zwei Jahrhunderte werde es dauern, sage Gramner, und der Planet sei ruiniert.

Er ist ein Schwarzmaler, oder?

Das kann ich nicht beurteilen, Thimbleman, aber gemessen an dem, was wir von Termoth hören, sind Gramners Worte euphemistisch.

Thimbleman erschrak.

Der Ausguck lachte herzhaft.

Termoth hat sich einige Tage nicht auf der ›Boston‹ sehen lassen, oder?

Gut möglich, er muß seine Mannschaft auf dem Schoner bei Laune halten, das ist keine leichte Aufgabe, diese Tage ohne Arbeit sind Gift für die Disziplin, das Ende der Fangpause ist nicht absehbar.

Was hörst du von Termoth, Ausguck, erzähl!

Seine Erzählung geht weit hinaus über das, was wir von Gramner erfahren.

Du wiederholst dich.

Sie werden für Propheten des Untergangs gehalten, verstehst du, der eine wie der andere, man respektiert sie, doch der erwähnte ›Homo Sapiens‹ bleckt blendend weiße Zähne, um seine Welt voller Sonnenschein zu verteidigen, denn nie, so prahlt er und preist sich selbst, sei es dem Menschen so gut ergangen.

Zwanzigstes Jahrhundert?

Und das frühe einundzwanzigste.

Wir leben im neunzehnten?

Wir leben in neunzehnten, sicher, der Ausguck lachte, die Katastrophe liegt weit vor uns.

Läßt sie sich vermeiden?

Niemand weiß das.

Termoth?

Er ahnt die tiefen Brüche – zweieinhalb Jahrtausende der Geschichte, sagt er sogar, seien nichts anderes als ein Irrweg, und wir müssen seine Worte ernst nehmen, Thimbleman, Termoth wird unter den Navajo als ein bedeutender Künstler verehrt, seine Sandmalerei wird bewundert, er gilt als ein Hüter des Lebens. Die Wissenschaft der Industriegesellschaft, sagt er, sei irreführend, von Anfang an, verstehst du, er rüttelt an den Grundfesten.

Erzähl.

Die Wissenschaft der Industriegesellschaft dränge alles ins Abseits, was sich nicht zählen, rechnen, messen lasse, das sagt auch Gramner.

Träume?

Für Träume phantasiere man einen mysteriösen Innenraum, eine Seele, spektakulär, wenngleich nicht lokalisierbar, und versetze all jene lästigen Angelegenheiten dort hin, die sich weder zählen noch rechnen noch messen ließen.

Es gibt diesen Innenraum nicht?

Termoth hält ihn für ein Hirngespinst, spricht von einem Innenweltdogma, weshalb zahlreiche Dinge nur teilweise wahrgenommen würden, eben insoweit sie meßbar seien: die Stimme mit ihrer Lautstärke, der Wind mit seiner Kraft, und gar nicht meßbar seien Gefühle oder Stimmungen, die von einer Landschaft ausgingen oder von einer Wetterlage.

Kompliziert. Thimbleman lächelte. Bei Licht betrachtet, ist die Moderne all ihren wohltönenden Worten zum Trotz also doch nur eine Variante primitiver Gesellschaftsformen.

Die Beispiele ließen sich fortsetzen, sagte der Ausguck, und wer recht überlege, dem dürfte es schwerfallen, Termoth zu widersprechen, und sowieso würden viele Fragen auf eine Antwort warten, es handle sich um einen gänzlich anderen Ansatz, die zehntausend Dinge zu verstehen. Was sind Gefühle, was sind Stimmungen, was Atmosphären? Was leistet unser Blick? Gibt es eine instinktive Reaktion, was ist das, wie kommt sie zustande?

| WOLF SENFF

Weiterlesen:

Termoths Rituale

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Französische Küchengeheimnisse

Nächster Artikel

Kleines Wesen mit großer Neugier

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Im Lauf der Zeit

Kalender | Literaturkalender 2021

Alles fließt (dahin) – Wochen, Monate, Jahreszeiten. Was könnte uns verlässlicher Halt und Orientierung bieten als Kalender? Unterlegt mit der passenden Dosis Literatur, mit anregenden Zitaten, aufmunternden Gedichten und spannenden Ausblicken auf bislang Unbekanntes erscheint das kommende Jahr schon greifbar nah. INGEBORG JAISER stellt einige empfehlenswerte Literaturkalender vor.

Der jugendliche Camus

Menschen | Abel Paul Pitous: Mon cher Albert Wird Albert Camus noch gelesen? Die Pest? Camus stand stets im Schatten von Jean Paul Sartre. Oh, sie begründeten die Tradition der schwarzen Rollkragenpullover, dafür sei beiden gedankt, Camus kam leider früh zu Tode. Der hier veröffentlichte Brief fand sich im Nachlass des 2005 verstorbenen Abel Paul Pitou, eines Jugendfreundes von Camus, und wurde 2013 von dessen Sohn zur Veröffentlichung gegeben – die unscheinbarsten Manuskripte erreichen die Welt auf den kompliziertesten Pfaden. Pitous und Camus spielten in diversen Schulmannschaften gemeinsam Fußball, das verleiht dem Text spezielle Würze in diesem Jahr der Fußball-Weltmeisterschaft.

Flüchtlinge

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Flüchtlinge

Wie es gelinge, eine Wirtschaftsordnung wie die gegenwärtige als positiv darzustellen, das frage er sich seit langem, sagte Farb und tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Tilman reichte ihm die Schale mit Schlagsahne.

Unbegreiflich, sagte Farb und nahm sich einen Löffel Sahne, die er sorgfältig auf dem Stück Kuchen verteilte.

Sinn

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Sinn

Die Dinge seien doch leicht zu verstehen, behaupte Gramner, wo liege das Problem.

Thimbleman rieb sich die Augen. Wie Gramner das meine, fragte er.

Der Ausguck zögerte zu antworten, wandte sich zur Lagune und blickte hinaus aufs Wasser. Woher die Wale kommen, fragte er, und ob es wahr sei, daß sie von der Arktis mehrere tausend Meilen nach Süden bis zur Ojo de Liebre geschwommen seien, um die warmen Regionen zu genießen.

Einwohnen

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Einwohnen

Kirchen, Kathedralen, Dome seien zu Hotspots des Tourismus geworden, sagte Tilman, kein Aufenthalt in Paris ohne Notre Dame, kein Rom-Aufenthalt ohne den Petersdom, absolviert in einer Reisegruppe nebst sachkundiger Führung.

Farb kam aus der Küche und schenkte Tee nach, Yin Zhen, die ersten Oktobertage brachen an, die Temperaturen waren leicht winterlich, doch die Sonne schien, in einem warmen Pullover hätten sie sich beinahe schon auf die Terrasse setzen können.

Anne nahm einen Keks.

Tilman rückte näher an den Couchtisch.