//

Zerbrechlich

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Zerbrechlich

Sensible Systeme sind störanfällig.

Ist hinlänglich bekannt.

Nur daß ungern darüber geredet wird, Tilman, schon gar nicht öffentlich.

Beim Ausbruch des Vulkans Hunga-Tonga-Hunga-Ha’apai in der Südsee riß an zwei Stellen ein wichtiges Unterseekabel ein, mit dem nahezu alle digitalen Informationen einschließlich Telefon- und Internetkommunikation übertragen werden, die internationalen Verbindungen mit Tonga sind seitdem gekappt, man muß sich das ausmalen, es werde Wochen dauern, den Schaden zu beheben, ein Kabelreparaturschiff sei unterwegs, die Dinge gestalten sich kompliziert.

Deswegen gab es anfangs null Informationen, wer wäre denn auf so etwas vorbereitet.

Du sagst es.

Eine Zivilisation stößt an ihre Grenzen.

Du sagst es, Anne. Eben noch nahm der Mensch an, er sei es, der die roten Linien ziehe, und muß nun staunend zur Kenntnis nehmen, daß sie ihm gezogen werden, wer glaubt denn das, wie um alles in der Welt ist das möglich, wohin wird das führen, unter langjährigen Gewißheiten bröckelt das Fundament, ungeahnte Abgründe tun sich auf.

Ein Menetekel.

Weit mehr, denn längst schon wird der Mensch getrieben und hat das lange Zeit nicht bemerkt und nicht bemerken wollen, ein rasantes Tempo gewinnt Oberhand, eine allgemeine Jagd nach Rekorden, eine Hetze, die ihm den Atem raubt.

Er findet nicht zur Besinnung.

Hat keine Ahnung, was er sich damit einbrockt und was ihn erwartet, er denkt nicht über die Konsequenzen seines Handelns nach, es ist ein Trauerspiel.

Im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert wurde der Typus des Machers gepriesen.

Wieder auf  Hunga-Tonga-Hunga-Ha’apai zurückzukommen – seine Ingenieure und Geologen können nicht sagen, ob der Ausbruch zu Ende ist und wo man mit Rettungseinsätzen eingreifen kann, seine Hilflosigkeit ist grenzenlos, die Lage ist chaotisch, die Dinge sind dem Zufall anheimgestellt, es gibt keinen Plan. Mehr noch, er hat keinen Überblick, er weiß nicht, was sich abspielt.

Er schiebt es auf den Klimawandel.

Was wir den Klimawandel nennen, Anne, galt uns anfangs als eine befristete Erderwärmung, heute wird von einer Krise geredet, von einem Kollaps, von einer Störung des Gleichgewichts, vom Desaster, von der Apokalypse.

Das komplette Sortiment.

Das komplette Sortiment, Anne, menschengeschaffen, rekordverdächtig, ein Ende nicht absehbar, und in der Öffentlichkeit nirgends ein Anflug von Einsicht, ein Zeichen von Reue, ein Eingeständnis von Schuld, das wäre das mindeste, oder nicht, denn ungeheuer ist die Zerstörung, die menschliches Handeln anrichtet in den Meeren, auf dem Festland und unter den Lebewesen, ein Übermaß, unglaublich, unfaßbar.

Die Krise sei menschengeschaffen, so heißt es politisch korrekt, neutral formuliert.

Er ziert sich noch, mag nicht das Wams des Büßers tragen.

Nicht einmal er selbst bleibt unbehelligt.

Nicht einmal er selbst bleibt unbehelligt, Anne, wie denn auch, unmöglich, er hat ja diese Zustände herbeigeführt, das läßt ihn nicht los, seine Gesundheit ist labil, sein Organismus ist anfällig geworden, Seuchen breiten sich ungehemmt aus, er war nie Herr des Geschehens und wird es nicht werden, ein Ende nicht absehbar, das Artensterben, das läßt sich mit Gewißheit sagen, es wird ihn keinesfalls vergessen.

Die Zustände sind verheerend, war nicht vor kurzem erst ein anhaltender Vulkanausbruch auf einer der kanarischen Inseln, und man wußte nicht ein noch aus – die Rede war von Experten, die vor Ort die Lage sondierten und, als keine Lava mehr floß, kurzerhand das Ende des Ausbruchs diagnostizierten, nein, sie wissen es nicht.

Weit mehr, Anne, weit mehr, das Ende ist nicht absehbar, welche Schuld laden wir uns auf, unmöglich wiedergutzumachen und irreparabel, wir verantworten das Aussterben anderer Spezies, oh nein, gewiß, es gibt keinen Rechtsanspruch, auf diesem Planeten zu leben, für niemanden, das Leben ist nicht einklagbar, man kann es nicht kaufen, doch das wären die menschlichen Maßstäbe, sie stoßen an ihre Grenzen, sie bröckeln, sie sind hinfällig.

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

5000 Jahre Medizingeschichte

Nächster Artikel

Auf sein Gefühl vertrauen, kann manchmal tödlich sein

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Hui-neng

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Hui-neng

Diese Dinge liegen uns fern, sagte Termoth, das Reden vom Sechsten Patriarchen klinge wie eine Erzählung aus einer stillstehenden Zeit, habe nicht Gramner ihn kürzlich erwähnt.

Als ob es das gäbe, sagte Harmat, eine stillstehende Zeit.

Kaum zu glauben, sagte Thimbleman.

Auch hier in der Ojo de Liebre, versicherte dagegen Bildoon, stehe die Zeit still

Thekengespräche

Titel-Textfeld | Harald Rutzen: Theken-Gespräche Erreicht hat Günther Tillmann, 46, alles, was er in seinem Leben erreichen wollte: Bausparvertrag, heiraten, eine Familie gründen, um diese dann mit großer Geste wieder aufzulösen (das gehört zusammen) und ein Haus zu bauen und dieses dann verlottern zu lassen. Alles ist vergänglich.

Kurzgeschichten für Kurzstrecken

Kurzprosa | Klaus Wagenbach (Hrsg.): Störung im Betriebsablauf. 77 kurze Geschichten für den öffentlichen Nahverkehr Störung im Betriebsablauf: 77 kurze Geschichten für den öffentlichen Nahverkehr – dieses Buch hat die praktischen Maße eines Smartphones und passt in jede Hosen-, Hemd- und erst recht Handtasche. Als kleiner Literaturhappen für Nahverkehr, Überlandfahrten und Wartezeiten am Bahnsteig. Selbst eine Störung im Betriebsablauf wird dank Klaus Wagenbach noch zum Leseerlebnis. Von INGEBORG JAISER

Ausrottung

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Ausrottung

Nein, sagte Termoth, in Kalifornien habe es keine so gravierenden Einschnitte gegeben wie 1832 den Trail of Tears oder 1890 die Schlacht am Wounded Knee, in Kalifornien sei die Ausrottung der Ureinwohner geschmeidig verlaufen, es habe keinen Aufschrei gegeben, und es sei nicht leicht, das Geschehen zu rekonstruieren, zumal die indigenen Stämme bereits von den Spaniern gewaltsam hätten christianisiert werden sollen, doch statt eines Erfolges habe sich Syphilis ausgebreitet und dazu in Epidemien Pocken, Typhus und Cholera, unerfreuliche Mitbringsel der Eroberer – die indigene Bevölkerung, vor der spanischen Missionierung siebzigtausend, sei bis zum Ende der Indianerkriege 1890 um über drei Viertel auf siebzehntausend reduziert worden.

Touste stutzte und spielte einige Töne auf der Mundharmonika.

Thimbleman starrte den Ausguck an.

Crockeye lächelte.

Eldin vergaß den Schmerz in der Schulter.

Am Ende

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Am Ende

Zu guter Letzt wird alles einfach, sagte der Zwilling, wutsch!, und unsere Probleme sind vom Tisch.

Wie, unsere Probleme sind vom Tisch.

Vom Tisch. Weg. Nicht mehr da.

Sind gelöst?

Der Zwilling lachte.

Es gibt sie nicht mehr, verstehst du, sagte Crockeye.

Nein, sagte Bildoon, verstehe ich nicht.