Die Erschaffung der Welt sei beileibe kein einmaliges Ereignis, sie bedürfe der ständigen Wiederholung und Erneuerung. Tilman schmunzelte. Täglich, fügte er hinzu.
Ist das so?, fragte Anne: Wer sagt das? Deine Ägypter?
Immer auf der Höhe der Zeit, spottete Farb.
Wir befinden uns in der dreieinhalbtausendjährigen Kultur des Alten Ägypten, das sei gar kein abwegiges Gedankenspiel, sagte Tilman, keineswegs, sagte er, angesichts einer Gegenwart, die daran arbeite, die Abläufe des Lebens und ihre Grundlagen zu schädigen.
Interessant, sagte Anne.
Farb schenkte Tee ein, Yin Zhen, legte zwei Marmorkekse vor sich auf die Schieferplatte und lehnte sich zurück.
Alljährlich habe die Nilüberschwemmung das Land erneuert, sagte Tilman, der Mond habe seine üblichen Phasen durchlaufen, das Licht sich in die Finsternis der Nacht gelöst, mit jedem Sonnenaufgang habe sich die Schöpfung wiederholt, in stetigen Rhythmen, ausgewogen balanciert, und alles Wirken des Menschen sei darauf gerichtet gewesen, diese Abläufe zu pflegen und der Welt von jener Vollkommenheit zurückzugeben, die sie in ihren Anfängen besessen habe.
Alles wird gut, spottete Farb.
Anne hörte mit halbem Ohr zu, während sie unschlüssig in ihrem Buch über die Ursachen der klimatischen Desaster blätterte. Was spielte sich ab? Nein, der Mensch lege es nicht darauf an, dazuzulernen, weißGott nicht, sondern er klammere sich an die Parolen vom Wachstum und vom Fortschritt, musikalisch untermalt, mal im Marschtritt, mal als Pop lauthals und in allen Farben glitzernd präsentiert, und bislang, sagt er, sei es doch immer gut ausgegangen, was spräche dagegen, Wachstum und Fortschritt würden ihn sicher in die Zukunft tragen.
Der Sinn der ägyptischen Religion liege darin, erklärte Tilman, die Welt ingang zu halten, durch Rituale, durch Opfer, durch Zuspruch, mit frommem Herzen, stetiger Hingabe und heiliger Verehrung, sagte Tilman, die Ägypter seien davon durchdrungen gewesen, daß die Welt solcher Hinwendung bedürfe, um für den Menschen bewohnbar zu bleiben.
Farb gähnte. Vor mehreren tausend Jahren, stöhnte er, und vorbei sei nun einmal vorbei, wen kümmere das Alte Ägypten.
Faszinierend, überlegte Tilman, über beispiellos lange Zeit sei es dieser Kultur gelungen, daß der Mensch in die Abläufe integriert blieb, und, mehr noch, sagte er, sie als religiöses Fundament alles Lebendigen verehrt habe, wie könne das sein, kennen wir doch den Menschen als sperrig, als unangenehm, als jemanden, der seine Interessen kompromißlos verfolgt, selten Rücksicht nimmt und seinen individuellen Vorteil sucht, wie könne das sein, es handle sich eben um eine andere Kultur, dreieinhalbtausend Jahre lang, sagte er, seitdem sei eine halbe Ewigkeit vergangen, der Mensch sei ein anderer gewesen.
Anne blickte auf.
Tilman aß einen Keks.
Es gibt keinen Weg zurück, sagte Anne.
Darum gehe es nicht, sagte Tilman, nur daß er sich der Einsicht stelle, auf einem Irrweg zu sein, falschen Zielen nachzujagen, und beginne neu nachzudenken, losgelöst von dem dogmatischen Korsett jener abgegriffenen Parolen.
Ihm bleibe kaum Zeit, sagte Farb.
Ihm bleibe kaum Zeit, und die erwähnte ägyptische Kultur könne ihm eine Richtung anzeigen, er müsse bereit sein, sich in Abläufe zu fügen, anstatt sich zum Herrscher aufzuschwingen, denn das sei ja nun offensichtlich nicht gutgegangen.
Eine Katastrophe, sagte Anne.
Er könne sich ebenso gut ein Vorbild an den indigenen Völkern nehmen, für jede Zivilisation gelte es, im Einklang mit den natürlichen Abläufen zu leben, anstatt sie lenken zu wollen.