So viel hat mit dem Meer zu tun, Herman Melville meinte sogar einmal, dass es noch nie einen großen Mann gegeben hätte, der sein Leben lang auf dem Festland gelebt hätte. So weit muss man nicht unbedingt folgen, aber das Meer hat seine Faszination nie verloren. Vom Meer und der Kultur, die zum Meer gehört, erzählt auch der Kulturkalender aus dem mare Verlag. Von GEORG PATZER
»Ich möchte da sein, wo nichts mich an die Vergangenheit erinnert, am Meer, das für mich die große Heilende ist«, schreibt Sylvia Plath in einem Brief nach Hause. Dem werden wohl viele zustimmen: Das Meer hat eine Heilkraft, durch ihren Rhythmus, in dem man aufgeht, ihre Unendlichkeit, in der man sich verliert und wiederfindet, in dem man seine Ruhe findet, fernab der geschäftigen Welt. Charles Baudelaire preist »die bewegliche Bildung der Wolken, die wechselnden Färbungen des Meeres, das Aufblitzen der Leuchttürme, das alles ist ein wunderbar geeignetes Prisma, um die Augen angenehm zu unterhalten.« Noch einen Schritt weiter, nämlich nach unten, nach innen, geht Jacques-Ives Cousteau: »Ich tauchte meinen Kopf unter«, schreibt er, »und die ganze Zivilisation schwand mit dieser Bewegung dahin. Ich war wie in einem Dschungel, der noch nie von all denen erblickt worden war, die sich auf der undurchsichtigen Erdoberfläche bewegen.«
Der Kulturkalender 2012 beschäftigt sich mit dem Meer – logischerweise, denn er kommt aus dem mare Verlag. Interessant aufgemacht bietet er ein großes Bild, einen literarischen Ausschnitt aus einem Werk und ein kleineres Kalenderblatt, mit dem er z.B. daran erinnert, dass am 17. Januar 1929 in einer Comicserie des Zeichners Elzie Segar zum ersten Mal ein Seemann namens Popeye auftaucht, als Nebenfigur. Bald gelang ihm der Sprung zum Weltruhm, bis zum Film »Night on Earth«, wo eine kaugummikauende, taxifahrende Göre ihn quäkend nachmacht: »I am what I am.« Am 15. April 1874 wird Claude Monets Seestück »Impression, soleil levant« in Paris ausgestellt – schon hat die neue Malerei einen eigenen Namen. Am 3. Juni 1844 töten auf der isländischen Insel Eldey zwei Trophäensammler das letzte überlebende Riesenalk-Brutpaar.
Schon seit Jahren staunt man ja beim Mare Verlag, was alles mit dem Meer zu tun hat, bei diesem Kulturkalender kann man weiterstaunen: Stephen Crane schreibt über den »eigenartigen Nachteil des Meeres«, der darin besteht, »daß man, kaum hat man eine See glücklich überwunden, feststellen muß, daß dahinter gleich wieder eine kommt, genauso beträchtlich und genauso darauf erpicht, ein Boot vollzuschlagen.« Der Historiker Fernand Braudel gesteht: »Ich habe das Mittelmeer leidenschaftlich geliebt, vermutlich, weil ich – wie so viele andere und nach so vielen anderen – aus dem Norden kam.«
Der Barde Dylan Thomas erzählt: »Und die Wogen rollten heran und trugen Gummienten und Büroangestellte. Ich erinnere mich an den geduldigen mühsamen und liebenswürdigen Zeitvertreibt oder Beruf, nahe Angehörige im Sand zu begraben. Ich erinnere mich an das fürstliche Vergnügen, Sand aus Eimern oder aus der hohlen Hand in Kragen oder Kleiderausschnitte rieseln zu lassen; an das Kreischen und Schütteln und an den Klaps.«
Impressionen und Expressionen
Die Bilder sind ebenso vielfältig wie die literarischen Ausschnitte: da sieht man, passend zu Dylan Thomas‘ Erinnerungen eine Frau in einem 20er-Jahre-Kleid mit einer riesigen Schwimmhilfenente, dem sie ihren Kapothut auf den Kopf gesetzt hat, von Josef Eberz ist ein expressionistisches Bild von 1917 zu sehen, mit rotglühenden Frauen vor einem roten Himmel und grünen Wellen, viele Fotos von Paul Almásy zeigen Fischerbote in Kalabrien oder ein Paar auf dem Deck eines Schiffs, die Frau strahlend in ihrem Liegestuhl.
Paul Signac tüpfelt pointillistisch das sonnenblaue Meer, einen Berg, den Strand und in weiter Ferne den Hafen von Saint-Cast, William Turner lässt das Meer vor Yarmouth sich aufwühlen, als ein kleiner Dampfer durch die Wellen pflügt, streng blickt ein pelzbemäntelter Roald Amundsen um 1920 aus dem Kalender auf die Nachwelt, es gibt Fotos von Fischern und allerlei Meeresgetier.
Manchmal sind Bilder und Literatur schön aufeinander abgestimmt, wie bei dem Bild von Rainer Hackenberg, der zwölf Reihen von gelben Liegestühlen zeigt, voll mit Menschen, am Playa de los Amadores auf Gran Canaria. Dazu das Gedicht von Erich Kästner:
Sie vermieten den Himmel,
den Sand am Meer,
die Platzmusik der Ortsfeuerwehr
und den Blick auf die Kuh
auf der Wiese.
Limousinen rasen hin und her
und finden und finden den Weg nicht mehr
zum verlorenen Paradiese.
Und das Kalenderblatt erinnert an Kokichi Mikimoto, der am 11. Juli 1893 die erste Salzwasserzuchtperle der Welt präsentiert.
Mit all dem ist der Kulturkalender, der so passend Kultur und Natur zusammenbringt, ein schöner Begleiter durch das Jahr: jede Woche ein neues Bild, ein neuer Spruch, ein neues Stück Literatur, mal frech, mal pathetisch, mal besinnlich, mal witzig. Wie der Gedanke von Blaise Pascal: »Die kleinste Bewegung ist für die ganze Natur von Bedeutung; das ganze Meer verändert sich, wenn ein Stein hineingeworfen wird.« Oder das Zitat von Klabund
Woher?
Vom Meer.
Wohin?
Zum Sinn.
Wozu?
Zur Ruh.
Warum?
Bin stumm.
Titelanangabe
Niklaus Gelpke (Hrsg.): mare Kulturkalender 2021
Hamburg: Mare Verlag 2020
52 Blätter, 22 Euro
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