Der Anwalt der Schwachen

Kurzprosa | Erich Hackl: Dieses Buch gehört meiner Mutter | Drei tränenlose Geschichten

Es gibt zwei neue Bücher des Schriftstellers Erich Hackl: ›Dieses Buch gehört meiner Mutter‹ und ›Drei tränenlose Geschichten‹ sind beide im Schweizer Diogenes Verlag veröffentlicht. Von PETER MOHR

Hackl-Tränenlose-Geschichten»Mein Freund, die Zeiten der Vergangenheit sind uns ein Buch mit sieben Siegeln«, heißt es in Goethes ›Faust‹. In diesem Sinn versucht Erich Hackl an den Siegeln zu kratzen und dunkle Flecken in der Geschichte auszuleuchten. Er hat sich nie um den literarischen Zeitgeist gekümmert, ist beharrlich seinen eigenen Weg gegangen und bevorzugt in seinem Werk traditionelle Erzählstrukturen. Der Autor, der am 26. Mai 1954 im oberösterreichischen Steyr geboren wurde, versteht sich als Aufklärer – kommt halb als Historiker, halb als Erzähler, aber vor allem als akribisch recherchierender Vollblutjournalist daher.

Erich Hackl begibt sich mit seinen Werken stets auf dem schmalen literarischen Grat zwischen nüchterner Dokumentation und historisch-psychologisch motivierter Erzählung. Diese beiden Ansätze korrespondieren in sämtlichen Werken ständig miteinander, und die Grenzen werden fließend.

Seit seinem 1987 erschienenen Debütwerk ›Auroras Anlaß‹, für das er mit dem Aspekte-Literaturpreis des ZDF ausgezeichnet wurde, hat er stets authentische menschliche Schicksale aufgegriffen, literarisch nachgezeichnet und daraus ebenso spannende wie lehrreiche Texte konstruiert.

Nach seinem Hispanistik und Germanistikstudium arbeitete Hackl einige Jahre als Universitätslektor in Madrid und später als Lehrer in Wien. Die journalistischen Arbeiten, die man im 1996 erschienenen Band ›In fester Umarmung‹ kennenlernen konnte, widmen sich ähnlichen Sujets wie seine Erzählungen.

Man kann den Eindruck gewinnen, dass dieser Autor Tag und Nacht in Archiven zubringt, immer auf der Suche nach »verschollenen« Menschen. Schreibend schlägt sich Hackl immer auf die Seite der Opfer der Geschichte, ergreift Partei für die Schwachen – für Verfolgte der Nazi-Herrschaft, für republikanische Kämpfer im spanischen Bürgerkrieg, für Sozialdemokraten, Gewerkschafter und Kommunisten seiner Heimatstadt Steyr – so auch in ›Die Hochzeit von Auschwitz‹ (2002), ›Anprobieren eines Vaters‹ ( 2004) und ›Als ob ein Engel‹ (2007).

Etwas außerhalb dieses formalen Rasters bewegt sich der Band ›Dieses Buch gehört meiner Mutter‹ (2013). »Soweit ich zurückdenken kann, hat meine Mutter von der Welt ihrer Kindheit und Jugend erzählt«, notiert Erich Hackl im Nachwort des Bandes. Es ist Hackls bisher persönlichstes Werk, in dem er (auf einer fiktiven Ebene) seine Mutter zu Wort kommen lässt – in einer bisher bei ihm noch nicht gekannten poetisch-bildhaften Sprache.

Dagegen ist sein jüngst erschienenes Buch ›Drei tränenlose Geschichten‹ wieder ein »klassischer« Hackl, in dem er drei bewegende Lebensläufe skizziert. Es geht um die österreichische Widerstandskämpferin Gisela Tschofenig , um Wilhelm Brasse, den sogenannten »Lagerfotografen« von Auschwitz und die jüdische Großfamilie Klagsbrunn.

Hackl verfügt über ein ausgeprägtes Gespür für jene menschlichen Tragödien, die in Geschichtsbüchern keinen Platz finden oder in Statistiken unter gigantischen Zahlenkolonnen verschüttet werden. Er schärft das Unrechtsbewusstsein seiner Leser, schreibt mit großem Impetus gegen das kollektive Wegschauen an und hat sich den erzählerischen Kampf gegen totalitäre, menschenverachtende Systeme zur Lebensaufgabe gemacht.

| PETER MOHR

Literaturangaben
Erich Hackl: Dieses Buch gehört meiner Mutter
Zürich: Diogenes Verlag 2013
116 Seiten. 17,90 Euro
| Leseprobe

Erich Hackl: Drei tränenlose Geschichten
Zürich: Diogenes Verlag 2014
153 Seiten. 18,90 Euro
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Mogelpackung

Nächster Artikel

Red Bullyversum: Komm, süßer Tod!

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Storys, die Narben hinterlassen

Kurzprosa | Laura Hird: Nägel-Stories

Das ist schon heftige Kost, die einem da präsentiert wird: eine ungewöhnliche Autorin mit ungewöhnlichen Erzählungen. Laura Hird, Jahrgang 1966, geboren in Edinburgh, ist nach eigenem Bekunden nur dreimal so richtig von Zuhause weg gewesen. Dafür, das belegen die Geschichten, hat sie eine überwältigende Phantasie. Von BARBARA WEGMANN

Not

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Not

Was sie nicht länger verbergen können, Anne, ist ihre Ratlosigkeit, denn wer mit offenen Augen durch den Tag gehe, könne das Menetekel nicht übersehen.

Manche Worte haben sich aus der Alltagswelt verabschiedet, die Sprache schaltet auf Schwundstufe.

Tilman rückte ein Stück näher an den Couchtisch und suchte eine schmerzfreie Sitzhaltung einzunehmen.

Dämonische Kräfte?

Mehr, weit mehr, Anne, ihr Tun hat radikal destruktive Konsequenzen, schon dem äußeren Anschein nach wendet der Planet sich gegen den Menschen, du siehst es überall, sei es in den lodernden Flächenbränden oder den lebensfeindlichen Veränderungen des Klimas, der Planet entzieht uns das Aufenthaltsrecht, Mutter Gaia hatte Geduld gehabt und einen langen Atem, nun war es genug, ein Tropfen bringt das Faß zum Überlaufen.

Im Überfluss

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Im Überfluß

Ob es Feigheit sei, fragte sich Thimbleman.

Eldin legte einen Scheit Holz nach, die Flammen schlugen hoch.

Der Ausguck schälte sich aus der Dunkelheit und setzte sich neben Thimbleman.

Die späte Moderne sieht bedrohlichen Zeiten entgegen, sagte Crockeye, wer hätte da keine Angst.

Der Panikmodus greift um sich, sagte Rostock.

Eskalation

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Eskalation

Weshalb im März ein Ventilator in Betrieb war, das sollte einmal jemand erklären. Erst im Mai würde es heiß, so viel stand fest, die auch preislich noch einmal angehobene Saison begann im Mai, und wenn überhaupt, wäre das eine geeignete Zeit für Ventilatoren. Die Abläufe im Lager, kein Zweifel, waren lückenhaft organisiert.

Waren Ventilatoren neuerdings schick? War ein Boom angesagt? Sollte man Aktien kaufen? War der Bürokrat aus Uelzen eingetroffen?

Ferne

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Ferne

Der Ausguck schälte sich aus der Dunkelheit.

Eldin legte einen Scheit Holz ins Feuer, die Flamme schlug hoch.

Seit wann reden wir denn über Krankheiten, fragte Crockeye irritiert, wir haben Verletzungen davongetragen, aber niemand sei krank.

Ein Walfänger, bekräftigte Pirelli, kenne keine Krankheit.