Jugendbuch | Clare Furniss: Das Jahr, nachdem die Welt stehenblieb
Der Tod der Mutter ist eine große thematische Herausforderung, zumal in einem Roman für Teenager. Es verlangt Auseinandersetzung mit Verlust, Trauer und deren Bewältigung, und zwar ehrliche Auseinandersetzung. Der Debütroman der englischen Autorin Clare Furniss ›Das Jahr, nachdem die Welt stehenblieb‹ will genau das sein, bliebt aber in der Schilderung viel zu sehr an der Oberfläche und wird so zur Mogelpackung in puncto Gefühlen – meint MAGALI HEISSLER
Pearl steht unter Schock. Eben noch hat sie sich von ihrer hochschwangeren Mutter verabschiedet, um mit ihrer besten Freundin Molly ins Kino zu gehen, einen Augenblick später nur, so kommt es ihr vor, ist ihre Mutter tot. Zurückbleibt eine zu früh geborene kleine Schwester, Rose. Für Pearl ist sie nur die Ratte. Häßlich, fordernd, ein böser Eindringling, der Pearl die Mutter geraubt hat. Ebenso die Liebe des Vaters und überhaupt Pearls Leben. Wie kann es je wieder sein wie früher?
Pearl kämpft heftig mit den Verlustgefühlen, aber diese erweisen sich als stärker. Sie wird kratzbürstig, dann wütend. Darunter leidet die Familie, aber auch die beste Freundin. Schließlich auch die Schule. Pearl ist alles gleichgültig geworden. Was ihr hilft, sind Gespräche mit ihrer toten Mutter, die ihr erscheint, um ihr den Kopf zurechtzusetzen. Was auch hilft, ist der gutaussehende Enkel der alten Nachbarin, Finn. Doch der Weg zurück ins Leben ist ein harter Weg. Gut, dass alle zur Stelle sind und Pearl unterstützen, auch Finn.
Salzarme Kost
Auf den ersten Seiten des Romans gelingt Furniss eine recht überzeugende Beschreibung der Beziehung zwischen Pearl und ihrer hochschwangeren Mutter, die schwierige Balance zwischen Streit und Zuneigung, erschwert durch Schwangerschaftsbeschwerden auf der einen und Pubertätsprobleme auf der anderen Seite. Der Schock der folgenden Ereignisse trifft auch die Leserin unmittelbar, ein Trauergottesdienst. Was genau geschehen ist, erschließt sich nur indirekt im weiteren Verlauf der Handlung, zusammen mit Pearl stehen wir übergangslos vor den zentralen Problemen: Der Vater verwitwet, Pearl mutterlos, ein hilfloses Neugeborenes im Haus, das Fürsorge braucht.
Pearl fühlt sich allein gelassen. Sie flüchtet sich in Fantasien von Gesprächen mit ihrer toten Mutter. Diese dienen als Spiegel der inneren Entwicklung, die Pearl durchmacht. Das ist gut ausgedacht und durchaus überzeugend dargestellt. Leider verschwimmt die Bedeutung der Szenen, weil Furniss’ Schilderung mehr und mehr in einen handelsüblichen Teenager-Entwicklungsroman abrutscht.
Der Streit mit der besten Freundin, die Kratzbürstigkeit anderen gegenüber, Essensverweigerung, Vollrausch nach einer Party und Schulverweigerung sind keine Kennzeichen, die für Trauer um einen verstorbenen Elternteil besonders charakteristisch wären. Sie sind längst beliebig geworden für welche Teenager-Schwierigkeit auch immer.
Tatsächlich gerät Furniss Pearl eher zickig als traumatisiert. Vor wirklich heftigen Reaktionen schreckt die Autorin zurück, echten Konflikten weicht sie ängstlich aus. Die Abneigung gegenüber dem Baby erschöpft sich nach einem Windchen im Wasserglas in der Benennung »Ratte«. Pearls Beziehung zu ihrem Vater bliebt skizzenhaft, dafür malt die Autorin einen skurrilen Auftritt der Großmutter aus. Zum Ganzen fügt sie auch noch Spurensuche in der Familiengeschichte, denn Pearls Vater ist nicht ihr leiblicher Vater. Auch nichts Neues, selbst wenn man sich hierbei wieder an einer Figurenzeichnung freuen kann, die stimmig ist und zu den gelungensten gehört. Angesichts der Schwere des Themas ist all das aber salzarme Kost, die nicht satter macht, nur weil der Teller bis zum Rand gefüllt wurde.
Trauerspiel
Verschlimmert wird das Ganze, weil Furniss auch noch eine Romanze für Pearl dazudichtet. Jeder Teenagerroman hat eben seinen vorgegebenen Ablauf. Von da an geht es bergab. Kleine Gesten, die wichtig wären, etwa wenn Pearl in einer alten Strickjacke ihrer Mutter herumläuft oder erschrickt, als jemand sagt, sie sähe ihrer Mutter ähnlich, verkommen zu Accessoires. Pearls Stöbern in den Sachen ihrer Mutter wird rasch umgewidmet in die Suche nach dem leiblichen Vater, dessen neue Familie dann wieder mehr Raum einnimmt als seine Erinnerungen an Pearls Mutter.
Viel zu freundlich reagiert auch Pearls Umgebung. Sie sind unendlich geduldig, Vater, Großmutter, Freundin, die Nachbarin, Finn, Lehrerinnen und Lehrer, sogar die Ratte. Wäre Pearl letztendlich nicht als recht normales Mädchen konzipiert, wäre sie spätestens am Ende diese Buches eine ausgewachsene Egozentrikerin. Die Welt scheint sich nur um sie zu drehen.
Dazu passt, dass ihre Rückkehr ins Leben mit einem Besuch bei einem teuren Stylisten und einem Essen in einem Restaurant gefeiert wird. Pearl darf jetzt auch Wein trinken. Die Trauer ist überstanden. Dem Leben, in dem man sich dem Konsum und dem süßen neuen Freund widmen kann, ohne von echten Gefühlen abgelenkt zu werden, steht nichts mehr im Weg.
Diesem Trauerspiel an dürftiger, oberflächlicher Handlung entspricht der Stil der Autorin. Sie soll Creative Writing studiert haben. Angesichts dieses Texts hätte es genügt, wenn sie ein Dutzend Teenagerromanzen gelesen und dann den Laptop aufgeklappt hätte. Da fallen Haare wie ein Vorhang vors Gesicht, Pearl tritt in das kalte, bleiche Licht des schwindenden Tages, man hat das Glücklichsein vergessen, es werden stumme Tränen geweint – hat jemand eigentlich einmal Tränen sprechen hören? – und irgendwo verweht ein eisiger Wind die Worte.
Ein Buch also für leicht zu beeindruckende gefühlige Teenager, die Emotion und Sentimentalität nicht unterscheiden können und beim Lesen gern heulen. Dazu bietet die Geschichte ausgiebig Gelegenheit. Eigentlich hätte der Verlag gleich Taschentücher dazu legen können. Rosa, versteht sich.
Titelangaben
Clare Furniss: Das Jahr, nachdem die Welt stehenblieb (2014 The Year of the Rat)
Übersetzt von Andrea O’Brien
München: Hanser 2014.
268 Seiten. 16,90 Euro
Jugendbuch ab 13 Jahren