Der Mensch erscheint im Holozän

Kurzprosa | Jörg-Uwe Albig: Eine Liebe in der Steppe

Eine höchst außergewöhnliche, reichlich merkwürdige Liebesgeschichte präsentiert uns Jörg-Uwe Albig in seiner neuen Novelle ›Eine Liebe in der Steppe‹. Schauplatz ist ein öder Landstrich, der über die Jahrmillionen durch einen Kreislauf von Meer und Wäldern, Aufbau und Zerfall geprägt wurde. Was gilt ein Mensch schon angesichts von kambrischen Wattlandschaften und karbonischen Urwäldern? Von INGEBORG JAISER

Albig - eine Liebe in der Steppe - 9783608961577 | Holozän»Gestern noch beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb, heute schon in jeder Buchhandlung« warb der Verlag Klett-Cotta in seinem Newsletter. Und lancierte die Veröffentlichung von Jörg-Uwe Albigs Eine Liebe in der Steppe just am Tage nach der Klagenfurter Preisverleihung. Leider ging die Rechnung nicht auf. Albigs Text – ein komprimierter, leider etwas unglücklich kompilierter Auszug aus seiner aktuellen Novelle – schaffte es nicht mal auf die Shortlist.

Der Klett-Cotta-Autor ging leer aus. Höchst bedauerlich, wenn man nun die gesamte Erzählung mit ihrer Wortgewalt und ihrer wohl in der Literatur einzigartigen Thematik in den Händen hält.

Rückbau und Rebellion

Ein unwirkliches, flirrendes, vibrierendes Szenario breitet Albig aus, auch wenn er seine Novelle in einer scheinbar existenten Stadt verortet. Zinnroda liegt in einer vergessenen Ecke Ostdeutschlands, eine absterbende Kleinstadt ohne Perspektiven, ohne Zukunft. An ihren Rändern zerbröselt, zerfällt sie bereits, geht über in eine steppenartige Landschaft. »Im Volvo flogen sie über die Ebene, ein gleitender Punkt auf weißer Fläche. Unbegrenzt dehnten sich Fahrbahnen über Bordsteine hinaus, weiße Rasenflächen über verwaiste Bürgersteige. Zwischen gelben Wiesen brachen Schneisen auf, Tankstellen rollten vorbei und verwaiste Lagerhallen…«

Im Volvo sitzen drei Menschen, die der Zufall an diesem unwirtlichen Ort zusammengewürfelt hat und die gegen den Verfall der Gegend protestieren. Der aus Niederfranken stammende Gregor Stenitz, studierter Paläontologe, arbeitet im Stadtmuseum Zinnroda als Kustos für die Fossiliensammlung, die Norddeutsche Judith Sievers als Beauftragte für Museumspädagogik. Nur Bertram Strau – genannt Le Bertram in Anlehnung an sein großes Vorbild Le Corbusier – stammt aus der Ecke. Lange hat er als Ingenieur im Betonplattenwerk gearbeitet. Bis schließlich nicht mehr Aufbau, sondern Rückbau das Thema wurde. Doch Rückbau, was für ein Wort. »Als würde man den Tod Rückleben nennen oder Rückgeburt.« Die gemeinsame Empörung hat die im Volvo sitzenden Menschen zu Aktivisten gemacht, die mit gewagten Taten auf den Abriss ganzer Hochhäuser und Straßenzüge reagieren. Da wird schon mal ein Bagger in Brand gesetzt.

Amour fou

Bei einem seiner Streifzüge durch das wüstenartige Brachland entdeckt Gregor etwas, das er zuerst ahnungslos einfach »Ding« nennt – etwas, das man an diesem öden Ort niemals vermuten würde. Es ist die schlichte, kleine, aus Beton errichtete evangelische Kapelle Maria Magdalena. Doch beim Näherkommen verspürt Gregor ein merkwürdiges Pulsieren und Vibrieren, eine magische Aura, der er heillos verfällt. Mehrfach umkreist Gregor die Kapelle, schleicht sich heran, findet sie irgendwann offen vor. Seine Faszination wächst. Zärtlich nennt er das Gebäude »Madeleine«, zelebriert ein Picknick mit Champagner und Fasanenbrust zu ihren Ehren, schläft regelmäßig in ihr. Doch Gregors geistlich angehauchte Amour fou wird durch das Auftauchen von Nebenbuhlern und Störenfrieden getrübt. Die Kapelle muss verteidigt werden.

Wissen und Leidenschaft

Man kann Eine Liebe in der Steppe als mehrfach ineinander verschränkte Dreiecksgeschichte lesen oder als pathetisch-spirituelles Mysterienspiel – aber auch als Hochgesang auf die Dinge, die die Welt zusammenhalten. Alles ist miteinander verwoben, gehört zu einem allumfassenden Kosmos: Architektur und Archäologie, Geschichte und Geologie, Sedimente und Steppe, Mineralien und Mystik, Menschen und Dinge. Gregor spürt, wie Zinnroda auf der Kohle vergangener Erdzeitalter gewachsen ist – und nun selbst wieder zerfällt und vermodert. Le Bertram spricht von der Auswilderung der Häuser. Und Judith glaubt an die Koevolution von Mensch und Gegenständen.

Albig ist ein höchst außergewöhnliches Stück Literatur gelungen, das trotz aller Phantastik auch etwas beruhigend Tröstliches in sich birgt: Was zählt schon das eigene aktuelle Erleben angesichts der Jahrmillionen der Erdgeschichte?

| INGEBORG JAISER

Titelangaben
Jörg-Uwe Albig: Eine Liebe in der Steppe
Stuttgart: Klett-Cotta 2017
175 Seiten. 20.- Euro
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Demokratie

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Demokratie

Entbehrlich, er ist entbehrlich.

Farb lachte. Verzichtbar.

Die Welt stünde ohne ihn keineswegs schlechter da.

Ohnehin ergeht es ihm miserabel, da greifen auch all seine Versuche nicht, gute Laune zu stiften, ehrlich, er ist überflüssig, und außerdem – was trage er bei zum Wohlbefinden des Planeten, nichts, wer brauche ihn, niemand, er nehme sich vom Kuchen und gebe nichts zurück.

Tilman rückte näher zum Couchtisch und suchte eine schmerzfreie Sitzhaltung einzunehmen.

Durchaus sei denkbar, sagte Farb, daß sein Abgang eine befreiende Wirkung hätte, der Planet würde von Zwängen und Knebelungen erlöst, der Tag zum Beispiel dürfte Persönlichkeit entfalten, als ein lebendiges Wesen wahrgenommen werden wie andere auch, er verströmte gute Stimmung unter einem blauen Himmel, er wäre melancholisch unter dunklen Wolken und Regenschauern, neigte zum Zornausbruch unter Blitz und Hagel.

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Nichts, sagte Termoth, das nicht seine Grenze hätte. Die Anzahl an Bildern, sagte er, sei begrenzt, sagte er, sie sei endlich. Das sei, konzedierte er, schwer zu verstehen, er wisse das, dem Menschen erscheine zu Anfang alles endlos. Doch sobald jemand die Anzahl seiner Bilder aufgebraucht habe, werde es keine weiteren Bilder geben.

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Wir sind längst überschwemmt, erstickt, ertrunken, sagte Wette, wir haben es lediglich noch nicht bemerkt.

Taub, spottete Farb, taub.

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Wir speichern sie ab, sagte Farb, und tun das vornehmlich unter Ausrufen des Entsetzens.

Wette lachte. Wir sind erschrocken, fürchterlich erschrocken, zu Tode erschrocken.

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Er hat sich sehr aufgeregt, sagte Farb, du hättest ihn erleben sollen.

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Cheyne Beach liegt an der südwestlichen Ecke Australiens, nicht weit von Albany, sagte Tilman, fünfundsechzig Kilometer westlich, und wurde zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts Stützpunkt der Walfänger, dort vor der Küste wurde immer schon dem Wal nachgesetzt, anderthalb Jahrhunderte lang war es eine einträgliche Industrie, und Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts wurde dort eine Station zur Verwertung der Walkadaver eingerichtet, die Cheyne Beach Whaling Company, die allerdings nicht besonders ertragreich war.

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Eldin legte einen Scheit Holz ins Feuer, die Ojo de Liebre lud ein zu bleiben, der Walfang war eh eine Weile ausgesetzt.

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Die Männer waren überrascht. Sanctus ergriff selten das Wort, was wußte er über Engel.

Pirelli räusperte sich.

Der Ausguck stand behutsam auf, Engel, Schutzengel gar, das war nicht sein Thema, nach wenigen Schritten verschluckte ihn die Dunkelheit.

Der Ozean rauschte von ferne.

Skurril, sagte Thimbleman.