Kurzprosa | Jörg-Uwe Albig: Eine Liebe in der Steppe
Eine höchst außergewöhnliche, reichlich merkwürdige Liebesgeschichte präsentiert uns Jörg-Uwe Albig in seiner neuen Novelle ›Eine Liebe in der Steppe‹. Schauplatz ist ein öder Landstrich, der über die Jahrmillionen durch einen Kreislauf von Meer und Wäldern, Aufbau und Zerfall geprägt wurde. Was gilt ein Mensch schon angesichts von kambrischen Wattlandschaften und karbonischen Urwäldern? Von INGEBORG JAISER
»Gestern noch beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb, heute schon in jeder Buchhandlung« warb der Verlag Klett-Cotta in seinem Newsletter. Und lancierte die Veröffentlichung von Jörg-Uwe Albigs Eine Liebe in der Steppe just am Tage nach der Klagenfurter Preisverleihung. Leider ging die Rechnung nicht auf. Albigs Text – ein komprimierter, leider etwas unglücklich kompilierter Auszug aus seiner aktuellen Novelle – schaffte es nicht mal auf die Shortlist.
Der Klett-Cotta-Autor ging leer aus. Höchst bedauerlich, wenn man nun die gesamte Erzählung mit ihrer Wortgewalt und ihrer wohl in der Literatur einzigartigen Thematik in den Händen hält.
Rückbau und Rebellion
Ein unwirkliches, flirrendes, vibrierendes Szenario breitet Albig aus, auch wenn er seine Novelle in einer scheinbar existenten Stadt verortet. Zinnroda liegt in einer vergessenen Ecke Ostdeutschlands, eine absterbende Kleinstadt ohne Perspektiven, ohne Zukunft. An ihren Rändern zerbröselt, zerfällt sie bereits, geht über in eine steppenartige Landschaft. »Im Volvo flogen sie über die Ebene, ein gleitender Punkt auf weißer Fläche. Unbegrenzt dehnten sich Fahrbahnen über Bordsteine hinaus, weiße Rasenflächen über verwaiste Bürgersteige. Zwischen gelben Wiesen brachen Schneisen auf, Tankstellen rollten vorbei und verwaiste Lagerhallen…«
Im Volvo sitzen drei Menschen, die der Zufall an diesem unwirtlichen Ort zusammengewürfelt hat und die gegen den Verfall der Gegend protestieren. Der aus Niederfranken stammende Gregor Stenitz, studierter Paläontologe, arbeitet im Stadtmuseum Zinnroda als Kustos für die Fossiliensammlung, die Norddeutsche Judith Sievers als Beauftragte für Museumspädagogik. Nur Bertram Strau – genannt Le Bertram in Anlehnung an sein großes Vorbild Le Corbusier – stammt aus der Ecke. Lange hat er als Ingenieur im Betonplattenwerk gearbeitet. Bis schließlich nicht mehr Aufbau, sondern Rückbau das Thema wurde. Doch Rückbau, was für ein Wort. »Als würde man den Tod Rückleben nennen oder Rückgeburt.« Die gemeinsame Empörung hat die im Volvo sitzenden Menschen zu Aktivisten gemacht, die mit gewagten Taten auf den Abriss ganzer Hochhäuser und Straßenzüge reagieren. Da wird schon mal ein Bagger in Brand gesetzt.
Amour fou
Bei einem seiner Streifzüge durch das wüstenartige Brachland entdeckt Gregor etwas, das er zuerst ahnungslos einfach »Ding« nennt – etwas, das man an diesem öden Ort niemals vermuten würde. Es ist die schlichte, kleine, aus Beton errichtete evangelische Kapelle Maria Magdalena. Doch beim Näherkommen verspürt Gregor ein merkwürdiges Pulsieren und Vibrieren, eine magische Aura, der er heillos verfällt. Mehrfach umkreist Gregor die Kapelle, schleicht sich heran, findet sie irgendwann offen vor. Seine Faszination wächst. Zärtlich nennt er das Gebäude »Madeleine«, zelebriert ein Picknick mit Champagner und Fasanenbrust zu ihren Ehren, schläft regelmäßig in ihr. Doch Gregors geistlich angehauchte Amour fou wird durch das Auftauchen von Nebenbuhlern und Störenfrieden getrübt. Die Kapelle muss verteidigt werden.
Wissen und Leidenschaft
Man kann Eine Liebe in der Steppe als mehrfach ineinander verschränkte Dreiecksgeschichte lesen oder als pathetisch-spirituelles Mysterienspiel – aber auch als Hochgesang auf die Dinge, die die Welt zusammenhalten. Alles ist miteinander verwoben, gehört zu einem allumfassenden Kosmos: Architektur und Archäologie, Geschichte und Geologie, Sedimente und Steppe, Mineralien und Mystik, Menschen und Dinge. Gregor spürt, wie Zinnroda auf der Kohle vergangener Erdzeitalter gewachsen ist – und nun selbst wieder zerfällt und vermodert. Le Bertram spricht von der Auswilderung der Häuser. Und Judith glaubt an die Koevolution von Mensch und Gegenständen.
Albig ist ein höchst außergewöhnliches Stück Literatur gelungen, das trotz aller Phantastik auch etwas beruhigend Tröstliches in sich birgt: Was zählt schon das eigene aktuelle Erleben angesichts der Jahrmillionen der Erdgeschichte?
Titelangaben
Jörg-Uwe Albig: Eine Liebe in der Steppe
Stuttgart: Klett-Cotta 2017
175 Seiten. 20.- Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander