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Weisheit oder Wahnsinn – Imaginationen von Wissenschaft

Thema | WissenschaftlerInnen in Games

Weise, verschroben oder gar größenwahnsinnig. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler treten in fiktionalen Stoffen erstaunlich vielfältig auf. RUDOLF INDERST hat sich die Darstellung in Computerspielen einmal genauer angesehen.

»Critical thinking is the key to success«, erklärt der fiktive Londoner Archäologe Professor Layton SpielerInnen in dem populären Rätselspiel ›Professor Layton und das geheimnisvolle Dorf‹ und greift damit bereits eine Eigenschaft auf, die Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen im Allgemeinen zugeschrieben wird – die Fähigkeit, kritisch zu denken und dergestalt Herausforderungen zu meistern sowie Probleme erfolgreich zu lösen. Doch damit nicht genug. In ›Professor Layton und das Vermächtnis von Aslant‹ spricht Layton, der neben seiner forschenden Tätigkeit auch als freier Berater erfolgreich im Dienst von Scotland Yard steht, eine weitere Maxime an: »Auch ein Fehltritt mag nach vorne führen.«

PS ControllerDie Frage, was WissenschaftlerInnen auszeichnet, welche Eigenschaften, Ambitionen und Arbeitsmethoden sie mitbringen oder entwickeln müssen, um auf ihren Feldern erfolgreich arbeiten zu können, aufgrund welcher Kriterien jener Erfolg überhaupt gekennzeichnet ist und wie ihre Arbeit wahrgenommen sowie medial widergespiegelt wird, ist hochgradig komplex. Daher ist es zielführend, als WissenschaftlerInnen in ausgesuchten Video- und Computerspielen diejenigen Charaktere in den Blick zu nehmen, die entweder durch die Erzählung und/oder ihre Funktion in der Spielmechanik für SpielerInnen klar mit wissenschaftlicher Praxis in etwa durch ihren Lebenslauf, ihre Tätigkeit oder die Örtlichkeiten, an denen sie sich aufhält, assoziiert werden. Dem Begriff der Biographie kommt in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung zu.

Biographien und Wissenschaftsgeschichte

Wissenschaftsgeschichte kann als »Gedächtnis der Wissenschaft« (Peter J. Brenner: Das Problem der Interpretation) verstanden werden: Unter der Prämisse, dass sowohl Kultur als auch die Gesellschaft der Gegenwart in einem überdurchschnittlichen Maß durch wissenschaftliches Wissen und wissensbasierte technische Fähigkeiten geprägt sind, übernimmt die Wissenschaftsgeschichte eine reflektierende und ordnende Funktion. Zahlreiche wissenschaftliche Erkenntnisse sind Teil einer umfangreichen und komplexen geschichtlichen Entwicklung. Das Ziel der Wissenschaftsgeschichte ist es, jene Entwicklungen und ihre Signifikanz zu begreifen. Dergestalt nimmt sie nicht nur Veränderungen von Wissensbeständen in den Blick. Ebenso rücken die sozialen und kulturellen Praxen der Wissenschaften in den Fokus. Dies schlägt sich ebenfalls in den zu untersuchenden Quellen des Faches nieder – in etwa die Analyse technischer Artefakte. Genauso sind allerdings auch Biographien Teil der Wissenschaftsgeschichte:

»According to a traditional but far from uncontested view, scientific knowledge […] is essentially due to creative scientists; they do not work in isolation, of course, but the roots of science are nonetheless to be found in the individual scientist. If this is the case, biographies seem to be fundamental to ths history of science.«

Zurecht beschreibt der dänische Historiker Krah in diesem Zitat die Ansichten bezüglich der Biographien von WissenschaftlerInnen als »far from uncontested«. So legt der Soziologe Hermann Korte dar, wie stark sich die Geschichtswissenschaft des 19. und frühen 20. Jahrhunderts an Einzelpersonen orientiert habe, wenn um die Erklärung von geschichtlichen Abläufen gegangen sei: »Der Held, der Geniale, der Feldherr, der große Politiker, der bedeutende Staatsmann, sie sind es […] die Geschichte machen.« Anschließend unterstreicht er kritisch, dass die heutige Geschichtswissenschaft sich von diesem Bild zwar verabschiedet habe, aber dass jenes nach wie vor innerhalb der Wissenschaftsgeschichte weiter in Form der publizierten Wissenschaftsbiographie bestehe. Den Grund für diese Fixierung vermag der Historiker Volker Bialas in der Anlehnung an die Antike erkennen: »Nach dem Vorbild der antiken Geschichtsschreiber […] suchte man Stil und Beredsamkeit der Alten nachzuahmen. Teils widmete man sich den herausragenden Einzelpersönlichkeiten […].« Von der regelrechten »Gefahr, die Wissenschaftsgeschichte zu biographisieren« wird zudem an anderer Stelle gesprochen.

Die Historiker Wilhelm Füßl und Stefan Ittner stimmen dieser Einschätzung in der Einleitung zu ihrem Sammelband Biographie und Technikgeschichte zwar grundsätzlich zu, geben aber gleichzeitig zu bedenken: »In der Technikgeschichte hat die Biographie trotz geringer methodischer Reflexion eine lange Tradition. […] Die Glorifizierung der Persönlichkeit prägt die deutsche Technikgeschichte bis in die 1960er Jahre.« Durch die Konzentration auf ein allzu »heroisches Verständnis des wissenschaftlichen Fortschritts« durch die den forschenden menschlichen Kräften angehängten »Kategorien wie Genius, Kreativität und Intuition« drohte das Feld, sich zu einem, in erster Linie, populärwissenschaftlichen Erinnerungsdienst zu entwickeln. (Michael Hagner: Ansichten der Wissenschaftsgeschichte.

Was aber geschah mit der Textsorte Biographie, die laut Bernhard Fetz »lange in Verruf stand und wenig symbolisches Kapital im Einsatz um akademische Karrieren versprach«? Die eher streng internalistische Sichtweise der VertreterInnen der Wissenschaftsgeschichte löste sich in den 1970er-Jahren zunehmend auf. Hatten zuvor in erster Linie Experten für Experten im Austausch gestanden, sorgte das steigende Interesse der Öffentlichkeit an Wissenschaft und wissenschaftlicher Praxis dafür, dass »sich das Feld der Wissenschaftsgeschichte […] als eigenständige Forschungsrichtung etabliert […] und einen […] breiten Blick auf die Geschichte der Produktion von Wissen« wirft. Damit stand weniger der »Nachvollzug einer linear abstrahierten Genese von Wissen und Wissenschaft« im Zentrum der Überlegungen, sondern vielschichtige Erkenntnisinteressen, die sich gleichermaßen aus den Naturwissenschaften wie Geistes- und Kulturwissenschaft speisen.

Victor FrankensteinSpätestens nach der Jahrtausendwende entdeckten auch HistorikerInnen wieder die Vorteile der Wissenschaftsbiografik. Man verspach sich davon Einsichten in die sozialen, politischen und kulturellen Dimensionen der Zeit und spekuliert darauf, diejenigen Faktoren und Einflüsse besser abschätzen und gewichten zu können, welche bei der Entstehung und Durchsetzung von Wissen eine Rolle spielen. Damit einhergehend ist das Verständnis vom herausragenden Wissenschaftler als eine Art des Zeitgeist-Exponenten. In diesem Zusammenhang stellt der Historiker Thomas Söderqvist die Frage nach der kulturellen Bedeutung der WissenschaftlerInnenbiographie. Diese Überlegung ist insofern aufschlussreich, als dass hier ebenfalls die Rolle des kulturellen Wissens rund um Wissenschaft und wissenschaftliche Praxis mitverhandelt wird. Söderqvist merkt an, dass man über die historische Bedeutung der Biographien in erster Linie spekulieren müsse:

»How has it contributed to the recruitment and socialization of young scientists? To the dissemination of scientific virtues and philosophies? To the self-understanding and identity formation of scientists, engineers and clinicians? We don’t know. Yet the existence of thousands of published volumes of scientific lives indicates that the public understanding of science and its practices may have been significantly shaped by the genre. It is not too far-fetched to suggest that scientific biography as a whole may in fact have had a stronger cultural and political impact than any other genre of metascientific writing in the last four hundred years.«

Wissenschaftliche Berufs- und Lebenswege ausgesuchter Figuren in digitalen Spielen

Das Bild und die Wahrnehmung von WissenschaftlerInnen in der Medien konsumierenden Öffentlichkeit unterliegen einem Wandel:

»Since science started to have a major impact upon society – during the Victorian period – it simultaneously began to have an influence upon literature. From Frankenstein to Dr Jekyll , from HG Well’s Time Machine to Ian Fleming’s Dr No, science and scientists form a rich vein that runs through much of our recent literature.« Chris Berry: The scientist in fiction

Auch bleibt die wiederholte Darstellung von ForscherInnen und deren wissenschaftlicher Praxis nicht wirkungslos. Die US-amerikanische Medien- und Kommunikationswissenschaftlerin Diane Waldman erklärt dazu:

»The only thing that I can say definitively is that no films are ›just entertainment.‹ Even if they’re entertaining they’re still helping to construct ideas about science and scientists«. Weingart stimmt ihr zu: »Films probably never portray scientists (or any other characters) entirely realistically, as they are a form of art with its own rules of dramatization and representation […] but that does not mean that they do not have their own impact.«

Der US-Physiker Peter Eugster weist in seinem Aufsatz auf die erstaunliche Vielfalt in der Darstellung von WissenschaftlicherInnen in der aktuellen Fernseh- und Filmlandschaft der Vereinigten Staaten von Amerika hin:

»Movies have moved from the cartoonish mad scientist to the «maverick« scientist, and although some of the negative stereotypes have disappeared (unusual appearance, disability, white male), many others have persisted (socially awkward, unorthodox, loner). (…)Interestingly, researchers gave television the greatest credit. Both children’s science programs, and CSI, were identified as (for the most part) portraying scientists accurately and positively. It should be noted, however, that these are only a small portion of the shows on television that depict scientists, and there are certainly still shows where negative images of scientists appear.«Peter Eugster

Ebenfalls stellt diese Pluralität und Heterogenität der US-Physiker Stanley Perkowitz in seiner Untersuchung Hollywood Science: Movies, Science, and the End of the World fest – zudem kommt er zu dem Schluss, dass Filmbiographien namhafter WissenschaftlerInnen sich bei aller von Drehbuch, Ausstattung und Regie genommenen inszenatorischen Freiheit die vergleichsweise realitätsgetreueste und authentischste Abbildung wissenschaftlicher Arbeit anböten.

Auch bei Video- und Computerspielen sind die Darstellungen sehr vielfältig – sie dienen auch dazu, Wissenschaft und wissenschaftliche Praxis nicht als abstraktes Konzept für SpielerInnen minderverstanden zurückzulassen, sondern jene mit Leben und somit Verständnisfläche auszukleiden.

»Members of society judge scientists not only on their deeds, but also in the way their actions compare to those of their literary and cinematic [and ludic] counterparts.«Michael J. Klein: Modern Myths

Vorhang auf für Dr. Halsey aus Halo

Um die Rolle, die Dr. Halsey in der ›Halo‹-Serie spielt, besser verstehen und einordnen zu können, ist es nötig, tiefer in die Hintergrundgeschichte der Spiele einzutauchen. Bereits im Alter von 15 Jahren schrieb die Wissenschaftlerin an ihrer zweiten Doktorarbeit, galt als einer der intelligentesten Menschen des 26. Jahrhunderts und wurde als zivile Beraterin Angestellte des militärischen Geheimdienstes. Während ihrer Dienstzeit dort gelangen ihr einige erfolgreiche Durchbrüche – vor allem in der Materialforschung. Schließlich wurde ihr als leitende Wissenschaftlerin das sogenannte SPARTAN-II-Projekt übertragen. Dabei ging es zunächst mitnichten um die Erschaffung einer militärischen Antwort auf eine angriffslustige außerirdische Spezies, sondern vielmehr hatte man festgestellt, dass die menschlichen Ansiedlungen, welche im Weltall verstreut lagen, kurz- und mittelfristig ihre Unabhängigkeit anstreben würden und ein Bürgerkrieg damit einhergehen werde.

Halo Halsey

Das Spartaner-Programm sollte eine Abhilfe darstellen und die rebellischen Kräfte eindämmen, indem es eine kleine, mobile und höchst schlagkräftige Supersoldateneinheit aufstellte, die in der Vorbereitung und Ausbildung nicht nur mit geheimer, militärischer Hochtechnologie vertraut gemacht, sondern deren Körper auch durch zahlreiche Operationen und Eingriffe leistungs- und widerstandsfähiger eingestellt wurden. Unter der Aufsicht Halseys wurden 75 Kinder aus verschiedenen Winkeln des menschlich besiedelten Weltalls entführt und durch Klone in ihren Familien – ohne Wissen der Familie – ersetzt, welche ein wesentlich früherer Tod ereilte. Die jungen Opfer dieses systematisch angelegten Kidnappings waren nun die Kadetten des Spartaner-Programms, das gleichzeitig mit einer großanlegten Lüge beginnt: »Any story fabricated to motivate the children—claiming their parents were taken and killed by pirates, or by a plague that devastated their planet.« In einer Ansprache legt die Wissenschaftlerin dar, was die Kinder erwartet:

»As per Naval Code 45812, you are hereby conscripted into the UNSC Special Project, codenamed SPARTAN II. You have been called upon to serve. You will be trained … and you will become the best we can make of you. You will be the protectors of Earth and all her colonies. This will be hard to understand, but you cannot return to your parents. This place will become your home. Your fellow trainees will be your family now. The training will be difficult. There will be a great deal of hardship on the road ahead, but I know you will all make it. Rest now. We begin tomorrow.«

Halsey legt dar, warum gerade die Jüngsten zeitgleich die Geeignetsten für das Projekt waren: »Children’s minds are more easily accepting of indoctrination, their bodies more adaptable to augmentation. The result was the ultimate soldier.« Doch nicht alle der 75 Kinder überleben die über zehn Jahre der Ausbildung – am Ende bleiben lediglich 33 Kandidaten übrig, die die komplette Transformation zum Supersoldaten durchstehen. Diese Quote hatte Halsey zu Beginn des Projekts bereits einkalkuliert, was sie in folgendem Zitat zum Ausdruck bringt: »They’ll adapt. Or they won’t, and they will be untrainable and unsuitable for the project. Either way I just want to get this over with.« Sie ergänzt außerdem: »We screen these subjects for certain genetic markers. Strength, agility, even predispositions for aggression and intellect.«

Lebensborn - Häuser
Mütter-Häuser des ›Lebensborns‹
Otmar Freiherr von Verschuer (1868-1969) war ein deutscher Mediziner, Humangenetiker und Zwillingsforscher. Als einer der führenden Rassenhygieniker des nationalsozialistischen Deutschlands war es außerdem der Doktorvater des in dieser Untersuchung bereits angeführten Josef Mengele. Bereits im Jahr 1935 trat er in der Rolle des medizinischen Beraters Heinrich Himmlers in Erscheinung, als dieser das Projekt Lebensborn ins Leben rief, welches als instutionelle Manifestation der bevölkerungspolitischen Agenda des Nationalsozialismus gilt. Lebensborn lag die Idee einer so genannten positiven Eugenik zugrunde, die das Ziel verfolgte, einen Rahmen für eine »›Aufartung‹ und ›Höherzüchtung‹ arischer und hochwertiger« NS-Eliten zu erschaffen. In den diversen Lebensborn-Heimen, von denen es 1940 bereits neun Heime in Deutschland gab (elf weitere weitere wurden in Belgien, Frankreich und Norwegen errichtet), wurde es Frauen ermöglicht, anonym zu gebären, um dort die »Aufnahme von ›rassisch wertvollen‹ Kindern« (Ines Hopfer: Geraubte Identität) zu konzentrieren und diese später mit einer Namensänderung an Pflegefamilien zu verteilen.

»Die Aufnahmekriterien der ›Lebensborn‹-Heime besagen, dass die Schwangeren einen ›Erbgesundheitsbogen‹ vorlegen sowie eine Ahnentafel, die bis zum 1. Januar 1800 zurückreicht. ›Rein westische, rein ostische und rein ostbaltische Frauen entsprechen nicht dem Ausleseprinzip‹, heißt es in einem Anforderungskatalog des Lebensborn e.V. aus dem Jahr 1944. Auch die Erzeuger, viele von ihnen Mitglieder der SS, müssen nachweisen, dass sie ›erbgesund‹ und von ›arischer‹ Herkunft sind.« Petra Pluwatsch: Lebensborn

Etwa 12.000 Heranwachsende lebten insgesamt zwischen 1936 und 1945 in Lebensborn-Heimen. Doch das Projekt Lebensborn, welches von Steuerzahler[n], Krankenkassen, [dem] NS-Winterhilfswerk oder SS-Unternehmen« finanziert wurde, beschränkte sich nicht auf eine »freiwillige Abgabe« des Nachwuchses:

»Vor allem norwegischen Frauen, die in den Augen der selbsternannten Rassenspezialisten besonders ›gutes Blut‹ besassen, bot man materielle Unterstützung und die Möglichkeit, in einem Lebensborn-Heim zu entbinden, wenn sie von einem Deutschen ein Kind erwarteten. Ausserdem brachte die Organisation etwa 250 norwegisch-deutsche Kinder, die zur Adoption freigegeben waren, nach Deutschland – zur ›Aufnordung‹ des Landes. Auch in Osteuropa, vor allem in Polen, wurden Kinder, deren Aussehen ›gutes Blut‹ versprach, zwangskaserniert, ›rassisch‹ überprüft, brutal umerzogen, mit falschen Papieren ausgestattet und nach Deutschland gebracht […]«Dorothee Schmitz-Köster: Lebensborn – lebenslang

Sicherlich diskutierte man die Rolle Dr. Halseys, die einer minutiös geplanten Kindesentführung vorstand, um eine Reihe von Elitesubjekten zur großangelegten Niederschlagung von Autonomiebestrebungen, welche sich gegen ein zentralistisch agierendes Regime richten, unter Schmerzen und Entbehrungen zu züchten, auf eine andere Art und Weise, wenn nicht die Entwickler in der Halo-Chronologie an dieser Stelle eine entscheidende Wendung in der spielinternen Menschheitsgeschichte angesetzt hätten.

Ein theokratischer Verbund außerirdischer Rassen, genannt Allianz, erklärt das Menschengeschlecht zum Feind, da es eine Beleidigung alter Götter sei, und beginnt mit der systematischen Auslöschung aller Siedlungen und Kolonien. Das Endziel stellt dabei der Heimatplanet Erde dar. Die regulären menschlichen Streitkräfte sind mit der Bedrohung komplett überfordert, einzig den ursprünglich für die Niederschlagung menschlicher Kolonien-Rebellen »herangezüchteten« Spartanern, unter ihnen die SpielerInnen als Master Chief Petty Officer John-117, gelingt es, erfolgreich zurückzuschlagen, obgleich sie deutlich in der Minderzahl sind.

Plötzlich erscheinen die Entführung, die Zwangserziehung, welche nicht nur lose an die in den Nationalpolitischen Erziehungsanstalten (kurz NPEA) des Dritten Reiches und deren vormilitärische Ausbildung erinnert und die medizinischen Prozeduren, welche die Kinder ertragen mussten, in einem anderen, in einem zu diskutierenden utilitaristischen Licht – so argumentiert Halsey selbst in etwa, als sie später vor einer Untersuchungskommision Rede und Antwort stehen muss: »When one human world after another fell, when my Spartans were all that stood between humanity and extinction, nobody was concerned over why they were originally built. […] My work saved the human race.« Ergänzend fügt sie hinzu: »It’s become quite… fashionable to condemn the unsavory origins of my now-notorious SPARTAN-II project. But without that program […] humanity would’ve been completely wiped from existence.« An dieser Stelle wird deutlich, warum gerade der Name des Sparta-Programmes gewählt wurde:

»Die […] bereits in der Antike umstrittene Gleichsetzung von körperlicher Vollkommenheit und moralischer Rechtschaffenheit konnte zur Ächtung häßlicher wie kranker Menschen führen, die in Sparta […] für ihre ihre körperlichen Mängel sogar bestraft wurden! […] Ein Verständnis antiker Quellen zu Fragen der Euthanasie, Eugenik oder Abtreibung erscheint nur unter Berücksichtigung dieses Menschenbildes möglich. Es führte offenbar nicht selten zu unbarmherzigen und – wie man heute sagen würde – radikal utilitaristischen Konsequenzen. Nach Plutarch urteilten die Ältesten Spartas über die Lebensberechtigung jedes Neugeborenen. »War es schwächlich […], so ließen sie es zu […] einem Felsabgrund [bringen]. Denn sie meinten, für ein Wesen, das von Anfang an nicht fähig sei, gesund und kräftig heranzuwachsen, sei es besser, nicht zu leben, sowohl um seiner Selbst wie des Staates willen.«Klaus Bergdolt: Das Gewissen der Medizin

Nicht gilt der spartanische Soldat im kulturellen Wissen als Musterbeispiel für ehrhaftes, willenstarkes und tödlich-kompetentes Kämpfertum, sondern dieser Status kann ausschließlich über eine rigorose Selektion, welche bereits beim Kleinstkind beginnt, erfolgen. Für die SpielerInnen, die im Spiel die Rolle des Master Chief übernehmen, hat die Forschung zunächst ausschließlich funktional-ludische Vorteile. Die Prozeduren, die die Figur als Kind und Jugendlicher über sich ergehen lassen musste, sorgen nur für sein unmittelbares Überleben im Gefecht. Mehr noch: Man hat ihm durch sein Training und die operativen Eingriffe die Mittel an die Hand gegeben, aus jedem einzelnen der Gefechte als Sieger hervorzugehen – John-117 dominiert das Schlachtfeld mit seiner Geschwindigkeit, seiner Genauigkeit und seiner Härte.

Dr. Halsey ging in Halo einen entscheidenden Schritt weiter als zum Beispiel der deutsche Zoologe Ernst Haeckel (1834-1919), der vorgebliche degenerative Tendenzen in der Gesellschaft zu erkennen gewillt war, die Kindstötungspraxis der Spartaner gut hieß, aber daraus noch keine »therapeutische Programmatik« entwarf oder forderte. Mit dem Vorwurf konfrontiert, die Kinderkörper seien für sie und ihre Forschung lediglich zweckdienliches Experimentiermaterial gewesen, antwortet sie: »Your mistake is seeing Spartans as military hardware. My Spartans are humanity’s next step, our destiny as a species.« Zu dieser Aussage fügt sich eine weitere hinzu, die ihr enormes wissenschaftliches Selbstbewusstsein bezüglich ihrer scheinbar allumfassenden Problemlösungskompetenz unterstreicht: »If people would just share things with me, I could solve all the world’s problems.« Fundiertere oder nachhaltigere Ausführungen zu dieser, die Evolution des Menschen betreffenden, These lassen sich leider nicht finden und so bleibt es bei diesem Ausblick. Ob es sich in erster Linie um diejenige Forschung von Dr. Halsey handelt, die gerade dargelegt wurde und welcher innerhalb der überschaubaren scientific community des Halo-Universums widersprochen wurde, lässt sich nicht rekonstruieren. Sehr wohl tritt mit der Einführung der promovierten Biologin, Anthropologin und Psychologin Ellen Anders aber eine Stimme auf dem Plan, die als ehemalige Schülerin Halsey diese hasst.

Dr. Sokolov - Metal Gear Solid 3Dies beruht auch auf Gegenseitigkeit – allerdings wird nicht näher ausgeführt, worauf die Meinungsverschiedenheiten zurückzuführen sind (»She hated me and I hated her«). Auch Anders, die über einen Intelligenzquotienten von 180 verfügt, hat in ihrer täglichen Arbeit mit Militär und Geheimdienst zu tun. Letzter entführte sie sogar auf offener Straße, um sie zu einer Zusammenarbeit zu bewegen. Dieser stimmt sie, obschon zutiefst über das Kidnapping verärgert, schließlich zu – zu sehr lockt die praktische und theoretische Arbeit als Xeno-Biopsychologin. In gewisser Weise wird dadurch das auch in Videospielen häufig genutzte Motiv des entführten Wissenschaftlers (zum Beispiel Dr. Drago Pettrovich in Metal Gear 2: Solid Snake, Nikolai Sokolov in Metal Gear Solid 3: Snake Eater oder Dr. Naomi Hunter in Metal Gear Solid 4: Guns of the Patriots) konterkariert, indem, erneut utilitaristisch gedacht, zum Wohle der menschlichen Allgemeinheit entführt wird und die Wissenschaftlerin dies auch noch einsieht und sich motiviert einbringt. Schließlich wird Ellen Anders eine wichtige Fachkraft im Kampf gegen die außerirdischen Invasoren.

Zusammenfassung

Mit diesen Ausführungen sollte eine ausgesuchte Wissenschaftlerinnen-Figur aus einem Videospiel in den Blick genommen werden, die entweder durch die Erzählung und/oder ihre Funktion in der Spielmechanik für SpielerInnen klar mit wissenschaftlicher Praxis in etwa durch ihren Lebenslauf, ihre Tätigkeit oder die Örtlichkeiten, an denen sie sich aufhalten, assoziiert werden. Dabei spielte zunächst der Begriff der Biographie als Teil einer Wissenschaftsgeschichte, der eine reflektierende und ordnende Funktion innerhalb unserer Gesellschaft zukommt, die in einem ausgeprägten Maß durch wissenschaftliches Wissen und wissensbasierte technische Fähigkeiten geprägt eine wichtige Rolle. Zwar bleibt dem zu erzielenden Erkenntnisgewinn einer Wissenschaftsbiografik aufgrund mangelhafter Reflexion nicht unwidersprochen, so öffnet sich doch die Geschichtswissenschaft im Allgemeinen und die Technikgeschichte im Speziellen seit geraumer Zeit wieder diesem Forschungszweig. Die Wissenschaftsbiografik verspricht Einsichten in die sozialen, politischen und kulturellen Dimensionen der Zeit, was wiederum in einem Zusammenhang stehend mit kulturellem Wissen rund um Wissenschaft und wissenschaftliche Praxis verstanden werden kann.

Die erstaunliche Vielfalt in der Darstellung von WissenschaftlicherInnen in der aktuellen Fernseh- und Filmlandschaft findet Ihr Pendant in derjenigen der Video- und Computerspiele. Um dies zu veranschaulichen, wurden VetreterInnen der forschenden Zunft portraitiert – anhand der sehr unterschiedlichen Lebens- und Berufswege von insgesamt fünf ausgesuchten WissenschaftlerInnen-Figuren aus Video- und Computerspielen wurde einsehbar, auf wie vielfältige Weise den abstrakteren Begriffen Wissenschaft und wissenschaftliche Praxis Leben eingehaucht werden kann und welch’ unterschiedliche Fragestellungen sich an diesen Entwürfen festmachen und diskutieren lassen.

| RUDOLF INDERST

Abbildungen
| Bundesarchiv, Bild 146-1973-008-10 / CC-BY-SA 3.0,Bundesarchiv Bild 146-1973-008-10, Mütter-Häuser des ›Lebensborns‹, CC BY-SA 3.0 DE
| Microsoft XBOX Game Studios
| Kojima Productions/Konami

Ausgewählte Literatur
| Peter Eugster: The Perception of Scientists. In: The Science Creative Quarterly
| Daniel Riha (Hg.): Frontiers of Cyberspace. Amsterdam, New York 2012
| Chris Berry: The scientist in fiction – does science and literature have more in common than we imagine? In: Genotype
| Theodore Arabatzis/ Jürgen Renn/ Ana Simoes (Hg.): Relocating the History of Science. Essays in Honor of Kostas Gavroglu. Wiesbaden 2015

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