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Johanna

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Johanna

Manches, sagte LaBelle, hast du ständig vor Augen und verstehst es dein Leben lang nicht.

Daß Labelle das Wort ergriff! Thimbleman staunte. Das nächtliche Lagerfeuer in der Ojo de Liebre löste die Zungen, und dafür sei es gut, überlegte er, beim Walfang eine Pause einzulegen.

Er stamme aus Frankreich, sagte LaBelle, in Rouen sei er aufgewachsen, und was ihm sein Leben lang in Erinnerung bleiben werde, sei das Gedenken an die heilige Johanna.

Heilig?, fragte Harmat.

Im Volk gelte sie als der Engel Frankreichs, sagte LaBelle, fünfzehntes Jahrhundert, sie habe das Land von der englischen Besatzung befreit.

Wer jemanden heiligspreche, wollte Bildoon wissen.

Letzten Endes die katholische Kirche in Rom, also der Papst, erklärte LaBelle, aber ein Wunsch werde oft zuerst im Volk geäußert, jedenfalls sei es bei Johanna so gewesen, seit dem neunzehnten Jahrhundert lebte ihre Erzählung wieder auf, sagte LaBelle, und die Kirche tat gut daran, darauf einzugehen, auch wenn es schwerfiel und gedauert hatte, denn das Todesurteil war, vierundwanzig Jahre nachdem sie hingerichtet worden war, widerrufen worden, und damit meinte man genug getan zu haben.

Das Leben in diesem von marodierenden Kriegshorden heimgesuchten Land war trostlos, und sie sei dreizehn gewesen, sagte LaBelle, ein Kind vom Lande, als sie zum erstenmal Stimmen gehört habe, unmittelbar neben sich die Gestalt eines überirdischen Wesens, sie müsse Frankreich gegen die übermächtige Besatzung verteidigen, die Stimmen ließen nicht nach.

Als Siebzehnjährige endgültig fort von zu Hause? Crockeye lachte schallend: Eine Frau? Stimmen? Gar der Erzengel Michael? Wer glaubt denn das?

Eben, sagte LaBelle, doch die Dinge sind nun einmal, wie sie sind.

Schwer vorstellbar, sagte Pirelli, und Eldin legte die Stirn in Falten.

Das sei das Besondere, sagte LaBelle, eine Ausnahmesituation, eine Offenbarung des Göttlichen, und diese junge Frau war zutiefst entschlossen, dem himmlischen Auftrag Folge zu leisten, dem König zu Hilfe zu eilen und ihr bedrohtes Frankreich zu retten.

Ein Irrglaube, sagte London, eine Wahnidee.

Das werde bös enden, sagte Rostock.

Darüber könne urteilen, wer die gesamte Erzählung kenne, monierte LaBelle, denn ihre Stimmen, wie sie sie nannte, verliehen Johanna eine schier unglaubliche Energie, ihre Kraft war unwiderstehlich, sie strahlte auf die Menschen aus.

Märchenstunde, spottete Crockeye: Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

Nein, erfunden seien diese Ereignisse nicht, widersprach Pirelli.

Aber höchst unwahrscheinlich, oder, wer glaube denn so etwas, sagte Thimbleman.

Er wüßte schon gern, wie es in der Wirklichkeit ausgegangen sei, sagte Rostock.

Gern wird an die Episode ihrer ersten Audienz bei Karl VII. erinnert, sagte LaBelle, als sich der König zu seinen Höflingen gesellte, um Johanna zu täuschen, sie jedoch unbeirrt auf ihn zu ging und ihn ansprach. Es heißt, daß sie diese Situation von Anfang an im Griff hatte und ihr souveränes Auftreten jedermann überraschte.

Doch das Land litt immens, sagte LaBelle, sie wurde ernstgenommen, und nach dreiwöchiger Prüfung und intensivem Verhör wurde ihr ein kleiner Trupp Soldaten zugestellt, und als sich bei der Ankunft vor Orleans wie ein Zeichen des Himmels der Wind drehte, konnten sie die Loire überqueren und wurden von jubelnden Einwohnern willkommen geheißen, die überschwängliche Begeisterung hielt tagelang an.

Eine Frau, die einen Trupp männlicher Soldaten anführt, nein, sagte Thimbleman, wie könne das sein, fünfzehntes Jahrhundert, nein, unmöglich, er glaube das nicht.

Bald begann ein Scharmützel vor der Stadt, sagte LaBelle, das unter dem Kommando Johannas damit endete, daß die englischen Truppen die Belagerung aufgaben und sich fluchtartig zurückzogen, letzlich war sie es, unter deren Führung die Belagerung Frankreichs nach dem Hundertjährigen Krieg ein Ende fand.

Und wurde trotzdem hingerichtet?

Und wurde trotzdem hingerichtet. Verantwortlich waren die zögerliche Schwäche Karl VII., der nicht verhinderte, daß sie von englischen Instanzen zur Rechenschaft gezogen wurde, am 30. Mai 1431 zerrten Scharfrichter die gerade einmal neunzehnjährige Johanna von Orléans vor einer gaffenden Menge auf den Scheiterhaufen, setzten ihn in Brand und streuten anschließend die Asche in die Seine.

Folglich hatten ihre himmlischen Verbündeten sie im Stich gelassen, konstatierte Thimbleman kühl.

Das Geschehen ist bisweilen komplizierter, als ein Mensch sich erklären kann, sagte Pirelli.

Ein jedes Ding braucht seine eigene Zeit, daß es sich vollends entfalte, sagte LaBelle, an der Stätte der Hinrichtung befindet sich ein Denkmal, daneben eine im Jahr 1979 eingeweihte, nach Johanna benannte Kirche, und an den jährlichen Gedenkfeiern und Prozessionen nehmen Zehntausende Gäste und Pilger teil.

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