Es ist ein Buch des Schreckens: bakterielle, parasitäre Krankheiten, Viruserkrankungen und nicht minder opferreiche Zivilisationskrankheiten – sie alle haben die Geschichte und Entwicklung der Menschheit beeinflusst, haben Spuren von Schrecken und Grauen hinterlassen. Ein Buch, das so zum Geschichtsbuch, zum Fotoalbum wird, zur Dokumentation von Seuchen, die seit Jahrtausenden Opfer fordern. Von BARBARA WEGMANN
Es ist spannend und anschaulich wie ein Krimi, es ist ein Album zwischen Schrecken und Tod, bebildert mit alten Fotografien, Stichen, Malereien, Karikaturen, vielen Bilddokumenten verschiedenster Art. Plastisch, geradezu lebendig werden todbringende Seuchen, Krankheiten und Pandemien vor Augen geführt. Deutlich, ohne Scheu werden Gefahren und Bedrohungen skizziert, die Folgen und Auswirkungen der Seuchen auf Alltag und Leben unserer Vorfahren beschrieben. Gut gegliedert, mit erläuternden Zeittafeln präsentiert das sehr bemerkenswerte Buch vier große Kapitel: Bakterielle Krankheiten, parasitäre Krankheiten, Viruskrankheiten und schließlich Zivilisationskrankheiten, wobei wir gerade die Letztgenannten mit Lebensweise, Ernährungsweise und Vorbeugungsmaßnahmen am ehesten beeinflussen können.
Den aktuellen Anstrich erhält das Buch natürlich durch die Corona-Pandemie, die sich seit 2020 weltweit ausbreitet und bereits über eine Million Tote forderte. Aber: War es früher mit der Pest, der Lepra, der Syphilis, der Cholera oder der Tuberkulose anders? Selbst die Europäische Schlafkrankheit, die Encephalitis lethargica, forderte zwischen 1916 und 1927 weltweit rund 5 Millionen Opfer, seltene Fälle lassen sich heute behandeln, dennoch liegen die Ursachen der Erkrankung im Dunkeln. »Einige starben weniger Wochen, andere hielten Wochen und Monate durch. Sie fielen phasenweise in tiefen Schlaf, unterbrochen von Bewusstlosigkeit. Die am schlimmsten betroffenen überlebenden Patienten… sitzen bewegungslos da, nehmen zwar ihre Umgebung wahr, sind aber lethargisch und reagieren nicht, wie erloschene Vulkane.«
Der amerikanische Neurologe veröffentlicht 1973 das Buch ›Zeit des Erwachens‹, eher bekannt durch die Verfilmung mit Robert de Niro.
Es sind die aus ganz unterschiedlichen Bereichen zusammengetragenen Informationen zu jeder dieser schauerlichen Seuchen und Krankheiten, die das Buch bei allem Schrecken so überaus attraktiv machen. Erkrankungen werden eingebettet in Zeit, Alltag der Menschen und den Stand der Medizin. Eine wahre Recherche-Leistung.
Da ist viel Bekanntes: das Fleckfieber zum Beispiel, jene Infektion durch Blutsauger, die schon in beiden Weltkriegen wütete: »Schwerter und Lanzen, Pfeile, Maschinengewehre und sogar Sprengstoff hatten weit weniger Macht über das Schicksal der Nationen als die Kleiderlaus, der Pestfloh und die Gelbfiebermücke.« Masern, Grippe, Ebola, Pocken, Aids, Malaria. Seuchen, die »ganze Landstriche entvölkert« zurückließen, die sich auch auf die Geschichte auswirkten.
Klar macht das Buch in aller Deutlichkeit auch, dass Beginn und Ursachen von Seuchen und Pandemien nicht lokal beschränkt sind, ihre Verbreitung erfolgt rund um den Globus, auch wenn viele Erkrankungen vornehmlich ärmere Regionen dieser Welt heimsuchen und betreffen. Leider führt dies dazu, dass es, wie die WHO es nennt, »vernachlässigte Krankheiten gibt«, denen »nicht genug Aufmerksamkeit zuteil« werde. Zu wenig Geld, zu wenig Forschung. Das betrifft auch die Chagas-Krankheit, eine chronische parasitäre Erkrankung, die durch den Kot von Raubwanzen übertragen wird. Die »küssende Wanze« wird sie genannt, nachts, wenn ihre Opfer schlafen, greift sie an und saugt Blut. Millionen Infizierte, hauptsächlich in Südamerika gibt es schätzungsweise heute, Medikamente stehen zur Verfügung, teils mit schweren Nebenwirkungen, teils unwirksam.
Nach diesem Jahrtausende umfassenden Überblick sieht man die jetzige Corona- Pandemie klarer und kritischer, sensibler und sicher realistischer. Unbestritten gibt es riesige Erfolge in der Medizin, wurden Krankheiten ausgerottet und besiegt. Dennoch bleiben, wie die WHO sagt, rund 20 Krankheiten, von denen »1,5 Milliarden Menschen in 149 Staaten bedroht werden, eben jene »vernachlässigten Krankheiten«. Ebenso wie Auswirkungen des Klimawandels sollten auch Viren oder Bakterien und Co, die zurzeit noch in ärmeren Ländern herrschen, nicht von Forschung und Wissenschaft unterschätzt werden, eine Bekämpfung von Pandemien und Seuchen könne nicht nach Profit geschehen.
Auch die »küssende Wanze« kann, so Forscher, durch Globalisierung und Klimaerwärmung auch in Europa, Zentralafrika und Südostasien heimisch werden. Somit »könnte die Chagas-Krankheit also auch unser Leben betreffen.« Seuchen und Pandemien können nur losgelöst von Grenzen und Regionen global gesehen und bekämpft werden.
Eine der Erkenntnisse, die das Buch auf jeden Fall hinterlässt. Dazu viele Informationen, lehrreiche Hinweise, auch durch weiterführende Literatur, neben Texten, die gut lesbar sind auch für Nicht-Mediziner, die sachlich, klar und dabei deutlich sind, abgerundet durch Details, Hinweisen und Anmerkungen, die das Bild Tob bringender Seuchen plastisch werden lässt. So weiß man nach der Lektüre auch, dass der »Veitstanz«, eine vermutlich durch Streptokokken ausgelöste Nervenerkrankung ist, die in den 1370er Jahren am Rhein und in den Niederlanden ausbrach. »Dabei tanzten Gruppen von Menschen stundenlang wie im Delirium, bis sie erschöpft zu Boden fielen.«
Titelangaben
Mary Dobson, Kathrin Schwarze-Reiter Seuchen & Pandemien, die die Welt verändert haben
München: National Geographic 2021
272 Seiten, 36,99 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander