/

Please, don’t be passive!

Gesellschaft | Anthony B. Atkinson: Ungleichheit – Was wir dagegen tun können

Die Kluft zwischen Bettelarm und Superreich wächst zunehmend – auf ein Prozent konzentriert sich über 50 Prozent des Weltvermögens. Wie kommt es zu dieser Ungleichheit und was können wir dagegen tun? Ist die von der Politik präferierte Steuererhöhung wirklich die universelle Lösung? Ein Blick in die Historie der Weltnationen macht eines deutlich: Wir müssen handeln, statt nur zu diskutieren! Von MONA KAMPE

Anthony B. Atkinson - Ungleichheit»Die Zukunft liegt weitgehend in unserer Hand.« Kaum zu glauben, denn das Bewusstsein für Ungleichheit ist heute in den einzelnen Weltbevölkerungen größer denn je und mit ihm Verzweiflung, Machtlosigkeit und die ewige Frage nach Gegenmaßnahmen, um das Gleichgewicht wiederherzustellen. »Wir stehen vor einer epochalen Herausforderung.«

Vergleicht man die Einkommensungleichheiten der verschiedenen Nationen, erkennet man einen Anstieg dieser seit den Siebziger Jahren. In China und Indien ist der so genannte ›Gini-Koeffizient‹ – dessen Basis das Einkommen nach Steuern und Transferleistung bildet – mit knapp 50 Prozent doppelt so hoch wie in Schweden und Norwegen, dessen Werte mit rund 25 Prozent am niedrigsten liegen. Südafrika misst mit 60 Prozent den höchsten Wert, gefolgt von lateinamerikanischen Ländern, Israel, den USA und Großbritannien, die mit über 30 Prozent eine weit höhere Einkommensungleichheit aufweisen als Kontinentaleuropa und die nordischen Staaten.

Aus der Geschichte lernen

Doch das war längst nicht immer so: In Kriegszeiten sowie den Nachkriegsjahren verringerte sich die Ungleichheit im europäischen Raum, zuletzt auch in Lateinamerika. »Die Erfahrung lässt drauf schließen, dass dieser Rückgang der Ungleichheit jeweils durch eine Mischung aus verringerter Ungleichheit der Markteinkommen und effektiver Umverteilung zustande kam.««

Basierend auf dieser Ausgangsthese entwickelt der britische Ökonom und führende Spezialist für Einkommensverteilung Anthony B. Atkinson am Beispiel von Großbritannien einen pragmatischen Maßnahmenkatalog zur Reduktion von Ungleichheit, welche parallel auch die in einer modernen Demokratie angestrebte Chancengleichheit erhöhen würde. Er regt Leser dazu an, aus den historischen Entwicklungen zu lernen und die wirtschaftlichen Verhältnisse aus der Verteilungsperspektive neu zu betrachten.

Verteilungsaspekte stehen im Fokus seiner Analyse – mit diesem Ansatz distanziert er sich bewusst von wirtschaftswissenschaftlichen Schulmeinungen, unter denen dieser sich keiner besonderen Beliebtheit erfreut. Seiner Überzeugung nach bedarf es »kühner« und radikaler Maßnahmen wie einer »Aufstockung des Kindergeldes«, sogar »tiefgreifender Reformen« und dem »Willen zum Handeln«, um nachhaltig in alle wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereiche vorzudringen.

Die Konzentration von Vermögen und Einkommen vermittelt Macht und politischen Einfluss. Darum muss die Politik in ihrer Gesamtheit handeln – beim Blick in die Zukunft kann sie aus der Vergangenheit lernen, statt resigniert in Diskussionen zu verharren. Dies ließe sich etwa mit der »Gründung eines Sozial- und Wirtschaftsrates« umsetzen, der eine übergeordnete Rolle einnehmen könnte.

Es liegt in unserer Hand!

Atkinsons Buch ist keine finale Maxime, sondern »lediglich eine Richtungsangabe für all jene, denen daran gelegen ist, etwas gegen die Ungleichheit zu unternehmen.« Es richtet einen Appell ans Individuum, sich auf moralische Werte wie Fairness und soziale Gerechtigkeit zu besinnen und mit seinen alltäglichen Entscheidungen aktiv zur Verringerung der Ungleichheit beizutragen – etwa durch die »Unterstützung lokaler Geschäfte«.

Niemand ist machtlos oder muss die gegenwärtige, andauernde »Ungleichheitswende« tatenlos mit ansehen – Herausforderungen wie die Überalterung der Gesellschaft, der Klimawandel und globale Ungleichgewichte liegen in unserer Hand. »Wenn wir bereit sind, den größeren Wohlstand, über den wir heute verfügen, zu nutzen, um diese Probleme anzugehen, und wenn wir akzeptieren, dass diese Ressourcen gleicher verteilt werden müssen, dann gibt es in der Tat genügend Gründe für Optimismus.«

| MONA KAMPE

Titelangaben
Anthony B. Atkinson: Ungleichheit – Was wir dagegen tun können
Stuttgart: Klett-Cotta 2016
474 Seiten, 26,95 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Tyrannische Macht- besessenheit

Nächster Artikel

Im Zentrum – der Mensch: GIACOMETTI-NAUMAN

Weitere Artikel der Kategorie »Gesellschaft«

Marktwirtschaft oder Marktgesellschaft

Gesellschaft | Michael J. Sandel: Was man für Geld nicht kaufen kann. Die moralischen Grenzen des Marktes Schulen zahlen Schüler fürs Lernen, Krankenversicherungen die Versicherten fürs Abnehmen und Strafgefangene für eine bessere Zelle, Firmen zahlen für Werbetätowierungen auf der rasierten Kopfhaut und Jagdbesessene für den Abschuss eines Tiers von der Roten Liste. Alles ist käuflich geworden, so scheint es. Tatsächlich aber doch noch nicht alles, und diese Restbestände interessieren Michael J. Sandel in Was man für Geld nicht kaufen kann ganz besonders. Von PETER BLASTENBREI

Ein Mausoleum des Grauens

Sachbuch | Yang Jisheng: Grabstein Was geschieht, wenn Menschlichkeit plötzlich keine Rolle mehr spielt? Was trennt den Menschen vom Tier? Was können wir einander antun und warum? Was kann die Gesellschaft dem Individuum antun? Wann verliert ein Staatssystem seine Daseinsberechtigung? Und wie kann es sein, dass sechsunddreißig Millionen Menschen verhungern in einer Zeit ohne Krieg, ohne Naturkatastrophen und bei gefüllten Nahrungsmittelspeichern? VIOLA STOCKER ließ sich von Yang Jishengs Grabstein. Die große chinesische Hungerkatastrophe 1958 – 1962 diese und weitere Fragen erklären.

Vorsicht vor Frauen und Schnaps

Gesellschaft | Leitfaden für britische Soldaten 1944 Spätestens seit die US-Regierung auf den 9/11-Terror mit Bombeneinfällen im Irak reagierte, kennt man auch im friedensverträumten Deutschland das Wort »Exit-Strategie«. Man sollte, besagt es, nicht irgendwo einfallen, wenn man nicht weiß, wie man wieder rauskommt. Das leuchtet selbst Zivilisten ein, ist aber nur der zweite Schritt. Der erste – für den zweiten unabdingbare – scheint in neuen »asymmetrischen« Kriegen fatalerweise wegtechnologisiert zu sein: Man sollte das Land, in das man einfällt, sehr gut kennen. Nicht nur die Geo- und Topographie samt Klima, sondern die Menschen und deren Geschichte, Kultur, Lebensart, Mentalität. Mit

Kreuzzug eines Unbelehrbaren

Gesellschaft | Thilo Sarrazin: Der neue Tugendterror Vor vier Jahren schaffte sich Deutschland ab, blieb aber immerhin lebendig genug, um zwei Jahre später zu erfahren, dass Wunschdenken uns in die Krise geführt hat. Nun klappert ein neues Gespenst bedrohlich mit bleichem Gebein. Eine veritable Schreckensherrschaft tobt um uns. Durch Tugend. Thilo Sarrazin ruft mit ›Der neue Tugendterror. Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland‹ wieder zu einem Kreuzzug auf und erweist sich als ganz und gar unbelehrbar. Von MAGALI HEISSLER

Wider die Hysterisierung der Trübsalafisten

Gesellschaft | Behnam T. Said: Islamischer Staat Am 29. Juni 2014 rief ein gewisser Abu Bakr al-Baghdadi, Chef einer Terrormiliz namens »Islamischer Staat«, ein neues Kalifat und sich selbst zum emir al-mu’minin, Führer aller Gläubigen, aus. Nach intern-islamischer Verabredung ist das zwar ein Ding der Unmöglichkeit, und bisher fällt dieser »IS« auch vor allem als kriminelle Vereinigung zum Zwecke des Raubens, Mordens und Brandschatzens auf. Aber er kann mit modernstem Equipment aus den erbeuteten Arsenalen gestürzter Tyrannen und gewieften Militär- sowie Medienstrategen für virale Propaganda punkten. Das brachiale Gebräu aus salafistischer Avantgarde-Archaik und digitaler Cleverness lockt junge Männer zwischen 18