Ein Blick über den Tellerrand

Jugendbuch | Núria Tamarit: Toubab

»Toubab« werden Menschen europäischer Herkunft im Senegal benannt. Genau dorthin muss Mar, ein Teenager aus Europa, die ohne Handy keine Sekunde leben kann. Oder es wenigsten glaubt. Drei spannende Monate mit Überraschungen, findet ANDREA WANNER.

Afrikanische Frauen in bunten GewändernMars Begeisterung hält sich in Grenzen. Ihre Mutter soll im Rahmen einer humanitären Mission im Senegal ein Kulturzentrum aufbauen, unterstützt von Einheimischen und Freiwilligen. Und Mar muss mit. Was sie erwartet, ist eine andere Welt, eine Kultur, die sich von unserer so grundlegend unterscheidet, dass Mar immer wieder aufs Neue fassungslos ist. Das mit dem Handyempfang ist nicht das einzig Schwierige.

Besonders die Gemeinschaftsorientierung ist ihr fremd. »Meines« ist kein Konzept im Senegal. Jede und jeder soll bekommen, was er oder sie benötigt. Das können auch Mars Flipflops sein, die plötzlich weg sind. Diebstahl? Nein, jemand hat sie gebraucht. Aber irgendwie hat das auch was. So wie die Selbstverständlichkeit mit der ein Junge Schuhe anzieht, die in Mars Augen eindeutig Mädchenschuhe sind.

Es gelingt ihr, sich auf das Land einzulassen. Auf den Trubel der Märkte, die Spontanität der Menschen, das Nichtstun, die hygienischen Verhältnisse, die senegalesische Küche, die andere Haltung zum Leben. In Astou findet sie eine Freundin, der sie gesteht: »Ich hatte Angst hierherzukommen. Ich dachte, ich sehe hier Leute, die verzweifelt unsere Hilfe erwarten. Aber manchmal denke ich, euch geht es besser als uns.« Und Astou erklärt nur lakonisch: »ich glaube, du idealisierst uns.«

Die spanische Illustratorin und Comiczeichnerin Núria Tamarit hat selbst 2017 an einem humanitären Hilfseinsatz in Gandiol im Senegal, teilgenommen. Ihr Comic wurde 2019 in Spanien als »Beste Graphic Novel« ausgezeichnet. Es ist ein offener Blick auf die Kultur des Senegals, eine Story, die einen vom ersten Bild an mitnimmt. Schon der Vorsatz, eine Karte, die die neue Umgebung zeigt – den Atlantik, eine schmale Insel zwischen ihm und dem Fluss Senegal und an dessen Ufer das Dorf, in dem Mar und ihre Mutter unterkommen mit den eingezeichneten Häusern all derer, die man im Verlauf kennenlernt – stimmt auf das Abenteuer ein.

Und dann der erste Kommentar auf dem ersten Bild, das aus der Ferne einen Blick auf die Hütten wirft: »Es ist glühend heiß. Alles ist gelb, blau oder grau.« Gelb, Blau und Grau sind dann auch die prägenden Farben der Zeichnungen, zarte Farben, über denen ein zarter Dunstschleier zu liegen scheint. Ausdrucksstark sind die Figuren, denen ihre Gefühle deutlich anzusehen sind – egal, ob Mar feststellt, dass sie ihre Tage bekommt und das unter den gegebenen sanitären Bedingungen eine Zumutung findet, oder ob sie mit ihren neuen Freundinnen im Dunkel der Nacht auf dem Flachdach des Hauses ein Selfie macht, bei dem alle strahlen. Die Ballons enthalten auf hellem Grund die Texte, sodass sich eine harmonische, gut lesbare Folge der Panels in unterschiedlichen Formaten ergibt.

Das Lettering für die deutsche Ausgabe hat nach einer stimmigen Übersetzung von Lea Hübner Anna Weißmann übernommen: sorgfältig und schön. Die sechs Kapitel sind jeweils mit einem Begriff überschrieben – in Wolof, der Umgangssprache des Senegal: »Àgg« (Ankunft); »Ndimmal« (Hilfe); »Dunya« (Welt); Ñibi (Heimkehr); »Jàmm al jàmm« (bis bald) und »Fele-fele« (Korb): Bei genauerer Betrachtung zeichnen diese Substantive Mars Lernprozess. Ohne erhobenen Zeigefinger, sondern einfach, indem sie Augen und Ohren aufmacht.

So ist auch Wolof nicht nur die Sprache, die rund 80 Prozent der Bewohner des Senegals sprechen, sondern sie bezeichnen sich auch selbst damit. Und »Toubab« ist eben kein Begriff für Weiße. »Nein, wir Wolof sagen nicht WEISSE und SCHWARZE, sondern benutzen WOLOF und TOUBAN für zwei unterschiedliche Gruppierungen. Im Gegensatz zu manchen Begriffen für SCHWARZE hat es nichts Abwertendes.« Wie weit ist man doch da im Senegal …

Leseprobe (© Reprodukt)

So hat man am Ende Thieboudienne, das senegalesische Nationalgericht probiert – am besten mit den Händen! –, verstanden, dass in einem geschenkten Korb nichts drin sein muss, sondern der Korb das Geschenk ist, und erfahren, woher – was für eine typische Anekdote! – der Begriff »Toubab« kommt. Aber das sollte jede und jeder selbst nachlesen, in dieser klugen, wunderbaren Graphic Novel.

| ANDREA WANNER

Titelangaben
Núria Tamarit: Toubab. Zwei Münzen
Aus dem Spanischen von Lea Hübner
Lettering von Anna Weißmann
Font: Núria Tamarit
Berlin: Reprodukt 2022
128 Seiten, 20 Euro
Jugendbuch ab 13 Jahren
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Sommer überm Balkon

Nächster Artikel

Abgeschieden und doch so international

Weitere Artikel der Kategorie »Comic«

Fest im Hier dem Jetzt enthoben

Comic | Richard McGuire: Hier Das Hier und Jetzt, betrachtet aus dem Hier – vorher, jetzt und in Zukunft: Richard McGuire exerziert mit ›Hier‹ jenen narrativen Kniff, den er vor 25 Jahren in einem Kurz-Comic anwendete, auf der vollen Länge eines 300 Seiten starken Comics. CHRISTIAN NEUBERT begleitet ihn bei dieser ortsgebundenen Zeitreise.

Kaputt in Hollywood

Comic | Sammy Harkham: Blood of the Virgin

Bei einem Titel wie ›Blood of the Virgin‹ klopft das Herz von Genre-Film-Freunden gleich deutlich schneller. Und tatsächlich verfrachtet einen Sammy Harkhams so getaufter Comic, der in deutscher Sprache bei Reprodukt erschien, an das Set eines Exploitationfilms in den frühen Siebzigern. Der junge Cutter Seymor verdingt sich dort. Und versucht, beim Spagat zwischen Familienleben und Showbiz nicht unter die Räder zu kommen. CHRISTIAN NEUBERT hat ihm dabei über die Schulter geschaut.

SCHWEINEGEIL, ALTER

Comic | Fil: Didi & Stulle. Die Gesamtausgabe Comiczeichner Fil hat mit Didi und Stulle zwei Schweine geschaffen, die so sehr Berlin sind wie der Bär. 18 Jahre lang begleiteten sie die Hauptstädter im Stadtmagazin ›zitty‹, 2015 war Schluss. Eine opulente Gesamtausgabe spürt nun ihren irren Abenteuern nach. CHRISTIAN NEUBERT sagt´s mit Didi: »Dit muss jefeiat wern.«

Feindliche fremde Heimat

Comic | Hector Germán Oesterheld / Francisco Solando López: Eternauta Erstmals in den Jahren 1957 bis 1959 erschienen, ist der argentinische Fortsetzungscomic ›Eternauta‹ von Hector Germán Oesterheld und Francisco Solando López eng an das spätere Schicksal seines Autors geknüpft: Oesterheld fiel der argentinischen Militärdiktatur zum Opfer. Die deutsche Erstveröffentlichung im Avant-Verlag würdigt das Werk mit einer opulenten Aufmachung. Es ist auch abseits seiner unfreiwilligen Metaebene ein starkes Stück. Von CHRISTIAN NEUBERT

Ausschluss aus dem Leben

Comic | Yi Luo: Running Girl / Aisha Franz: Shit is real Unter den deutschen Comic-Zeichnerinnen mit Migrationshintergrund scheint es derzeit einen Trend zu gehen: Den, Geschichten zu kreieren, die die Probleme des Alltags von Frauen behandeln, die in irgendeiner Weise – sei es soziokulturell oder -ökonomisch – von der Gesellschaft exkludiert werden oder die es sogar präferieren, sich selbst von der Gesellschaft zu distanzieren. Dies kann auf mannigfaltige Weise geschehen, melancholisch, depressiv, verzweifelt, aggressiv oder sarkastisch. PHILIP J. DINGELDEY hat sich zwei dieser Graphic Novels angesehen, nämlich ›Running Girl‹ von Yi Luo und ›Shit is real‹ von Aisha Franz.