Sommer überm Balkon

Roman | Jan Weiler: Der Markisenmann

Der Markisenmann durchkämmt als mäßig erfolgreicher Handlungsreisender das Ruhrgebiet. In seinen altmodisch anmutenden Gebrauchsgütern steckt der schwere Ballast längst vergangener Zeiten. Bis sich ungeahnt neuer Wind ausbreitet. Jan Weiler hat einen anrührenden Vater-Tochter-Roman und ein ungewöhnliches Generationenporträt verfasst. Unterlegt mit sehr viel Zeitgeist und Lokalkolorit. Von INGEBORG JAISER

Was wäre Jan Weiler ohne Familie? Ohne Schwiegervater Antonio samt italienischer Sippe (Maria, ihm schmeckts nicht, 2004), ohne adoleszenten Nachwuchs (die Pubertier-Saga) oder dem kinderlosen Rest des Lebens (Die Ältern, 2020)? Nach Jahren literarischer Verquickungen wechselvoller Familienbande verschafft Jan Weiler nun erstmals einer weiblichen Stimme Gehör. Und das überwältigend authentisch und lebensnah.

Meiderich statt Miami

Kim ist 15 und wächst in bester Wohlstandsverwahrlosung in einem »Mikrokosmos aus Aloe-Vera-Creme und Lounge-Möbel« inmitten einer Patchworkfamilie auf. Ihren leiblichen Vater Ronald Papen kennt sie nur von einem verwackelten Urlaubsfoto, auf dessen Rückseite handschriftlich »Plitvice 88« vermerkt ist. Nach einem schulischen und emotionalen Desaster, mit folgenschwerem Unfall auf einer Grillparty, landet sie erst in der Jugendpsychiatrie und wird dann zu ihrem Vater abgeschoben. Vom schnieken Kölner Villenvorort Hahnwald ins verratzte Meiderich. Duisburg-Meiderich, direkt am schwefelgelben Rhein-Herne-Kanal.

Schlimm: der bislang unbekannte Erzeuger – insgeheim »der Unscharfe« genannt – entpuppt sich als ebenso abgetakelter wie erfolgloser Selfmademan im Direktvertrieb (»Kaltaquise ist mein Leben.«). Handelsreisender hätte man wohl im letzten Jahrhundert dazu gesagt. Noch schlimmer: er haust in einer Lagerhalle mitten im Industriegebiet, zwischen den übelst geschmacklosen Markisenmodellen »Mumbai« und »Kopenhagen«, unweit von Recycling-Anlagen, Schrottplatz und Rosi´s Pilstreff. Kein besonders prickelnder Ort für die Sommerferien anno 2005.

Einmal Ruhrgebiet und zurück

Mangels attraktiverer Angebote begleitet Kim ihren Vater auf dessen nur bedingt erfolgreichen Verkaufsstreifzügen im Markisengeschäft. Auf eine abgefahrene Tour de Ruhr zwischen Gelsenkirchen, Bottrop und Recklinghausen, immer hart am Guerilla-Marketing entlang. Inklusive gastronomischen Exkursen (»Das Akropolis ist sozusagen der Dujardin unter den Pommesbuden«) und erhellenden Fachsimpeleien angesichts eines Fußballspiels zwischen dem MSV Duisburg und Schalke (»Jedenfalls ist Benedikt ein Name, wenn Du Meerschweinchen verkaufst oder Papst werden willst. Aber für einen Fußballer taugt der nicht.«).

Mehr Lebenserfahrung als in diesen sechs Ferienwochen hat Kim in ihrer ganzen bisherigen Schulzeit nicht erworben. Dass sich nebenbei noch das Geheimnis ihrer Herkunft lüftet, ist schon eine Story für sich. Und kehrt alle bisherigen Vermutungen ins Gegenteil.

Licht und Schatten

Der Markisenmann profitiert von der gesammelten Expertise des 1967 in Düsseldorf geborenen Schriftstellers, ehemaligen Werbetexters und zweifachen Vaters Jan Weiler – ganz gleich, ob es um rheinisches Gemüt, flotte Verkaufssprüche oder familiäre Verwerfungen geht. Hinter der schrägen Milieustudie verbirgt sich auch eine gleichermaßen humorvolle wie anrührende Coming-of-Age-Geschichte. Denn Kim legt genau die wechselvolle Attitüde zwischen Altklugheit, Aufmüpfigkeit und verhuschter Scham an den Tag, der halbwüchsigen Girlies so gut zu Gesicht steht.

Ein heiterer und lebenspraller Roman, der mit einer passenden Spotify-Playlist ausgeliefert wird und der nicht zuletzt auch durch seine ausgeprägt haptischen Reize zu punkten vermag. Fühlt sich das Cover nicht wie ein gestärkter, imprägnierter Markisenstoff aus Dralon an? Ganz klar im orange-braun gestreiften Retrodesign »Mumbai«. Bei so viel greifbarem Zeitgeist mag man sichtlich bewegt zwischen Licht und Schatten pendeln. Der Sommer kann kommen!

| INGEBORG JAISER

Titelangaben
Jan Weiler: Der Markisenmann
München: Heyne 2022
333 Seiten, 22 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe
| Mehr zu Jan Weiler in TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Guten Appetit!

Nächster Artikel

Ein Blick über den Tellerrand

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Es ist nicht vorbei

Krimi | Horst Eckert: Wolfsspinne Zum dritten Mal lässt der Düsseldorfer Autor Horst Eckert in Wolfsspinne seinen Kommissar Vincent Ché Veih ermitteln. Der kommt aus einer tief in die deutsche Geschichte verstrickten Familie. Der Großvater ein unbelehrbarer Nazi, die Mutter eine RAF-Terroristin, der Vater – wie man erst in diesem Roman erfährt – zunächst linksextrem, dann zur extremen Rechten konvertiert und ein Cousin aus dem thüringischen Jena als V-Mann des Verfassungsschutzes in die NSU-Affäre verstrickt. Kein Wunder, dass sich Veih mit Vorliebe in Fälle stürzt, die einen politischen Hintergrund besitzen. Auch diesmal dauert es nicht lang, bis er sich mit

Demokratie im Härtetest

Roman | Horst Eckert: Die Macht der Wölfe

Zum vierten Mal arbeitet Melia Adan, deren Chancen, Düsseldorfs nächste Kripochefin zu werden, gerade nicht schlecht stehen, mit Hauptkommissar Vincent Veih zusammen. Und erneut geht es um sehr viel. Während Vincent nämlich der Fund von Leichenteilen auf einer Großbaustelle im Stadtzentrum in Trab hält, ist Melia im geheimen Auftrag der Bundeskanzlerin, die von ihrem eigenen Staatssekretär erpresst wird, unterwegs. Dass das eine mit dem anderen zu tun hat, ahnt bereits, wer die ersten drei Bände der Veih-Adan-Reihe des Düsseldorfer Autors Horst Eckert gelesen hat. Und der bietet auch in dem unter dem Titel Die Macht der Wölfe erschienenen neuen Abenteuer des sympathischen Ermittlerpaars, das nun auch privat zusammen ist, Politthrill vom Feinsten und viele Anspielungen auf die aktuelle Situation hierzulande. Von DIETMAR JACOBSEN

Die langen Schatten der Vergangenheit

Roman | Jane Harper: Die Suche

Seinen ersten Auftritt im Romankosmos der australischen Autorin Jane Harper hatte Kommissar Aaron Falk vor sieben Jahren. Hitze (2016) hieß das damals noch bei Rowohlt verlegte, preisgekrönte Romandebüt der 1980 Geborenen, in dem Falk nach 20 Jahren in seine Geburtsstadt zurückkehrt und den Tod von drei Mitgliedern einer Farmersfamilie aufklärt. Seinen nächsten Einsatz hatte er in dem Roman Ins Dunkel (2019). In der Unwegsamkeit des australischen Buschs musste er eine Frau finden, die verdeckt für die Polizei arbeitete und während eines Firmenevents spurlos verschwunden war. Nun, im dritten Roman mit Aaron Falk als Hauptfigur, zu dem sich Harper etwas länger Zeit genommen hat – zwischen Ins Dunkel und Die Suche entstanden zwei weitere Bücher – geht es erneut um eine vermisste Person. Im südaustralischen Weinland sucht Falk nach den Spuren einer vor einem Jahr während eines Festivals verschwundenen Frau. Von DIETMAR JACOBSEN

Am Abend Schatten hacken

Kurzprosa | Martin Walser: Sprachlaub

Martin Walser, der Grandseigneur der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, schreibt unaufhörlich und mit einer bewundernswerten Energie. Noch immer gibt es jedes Jahr ein neues Büchlein aus der Feder des Großmeisters vom Bodensee, der am 24. März seinen 94. Geburtstag gefeiert hat. Von PETER MOHR

Die märchenhafte Geschichte der Augsburger Marionetten

Roman | Thomas Hettche: Herzfaden

Feste Größen der TV-Kinderunterhaltung haben es an sich, dass der Zauber, den man als Kind beim Zusehen verspürte, auch im Erwachsenenalter nicht gänzlich verloren geht. Da gibt es Urgesteine wie die Sendung mit der Maus, Michel aus Lönneberga, Pippi Langstrumpf, tschechische Märchenverfilmungen, Disney-Filme oder aber auch die Augsburger Puppenkiste. Über das Augsburger Puppentheater hat der Schriftsteller Thomas Hettche im September einen Roman veröffentlicht, der von eben diesem Zauber zehrt. Von FLORIAN BIRNMEYER