Der Titel dieses schmalen Bandes ist unkonventionell und herausfordernd zugleich – eine Einladung zu einer Reise gegen den Strom des poetischen Zeitgeistes. Die 74-jährige Angela Krauß, die 1988 mit dem Gewinn des Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Preises den künstlerischen Durchbruch geschafft hatte, ist eine Meisterin der radikalen Verknappung. Vortrags- und Lesereisen führten sie an Universitäten in den USA und Kanada. An der Universität Paderborn war sie Gastdozentin für Poetik. Von PETER MOHR
Vor allem aber ist die gebürtige Chemnitzerin eine Grenzüberschreiterin, eine Schriftstellerin, bei der keine Grenzen mehr zwischen Prosa und Lyrik existieren. Die Autorin selbst spricht von einem »Sichtwechsel im Vertrauten« und von »Daseinsverwandlung« in ihren Werken.
Ihr neuer Band besteht aus zehn relativ freischwebenden Kapiteln, die nur locker miteinander verbunden sind. Poetische Prosaminiaturen, die den Leser leichten Fußes durch Raum und Zeit führen und mehr assoziativer Sprachstrom als Erzählung sind.
»Alle Häuser, in denen ich bisher eine Weile wohnte, ich habe sie als Durchgangsräume betrachtet. Beim Eingang war ich mir eines Ausgangs sicher, der irgendwo in der Zukunft lag«, heißt es im Text. Die Wohnung fungiert gleichermaßen als Rückzugsort wie als Schutzraum. Von »Loggien der Begegnung« und »Logen poetischer Existenz« ist die Rede.
Primärer Handlungsort ist die obere Etage eines Altbaus in Leipzig, der den Blick auf das Areal des Güterbahnhofs gestattet, und auch die Flugzeuge, die sich im Landeanflug zum nahen Leipziger Flughafen befinden, lassen sich beobachten. Hier bekommt die (für Angela Krauß typisch) namenlose Ich-Erzählerin Besuch von einer märchenhaften Postbotin, von einer Tänzerin und von einer Fee, die ihr einen Wunsch gewähren möchte. All diese Begegnungen sind für die Protagonistin aber auch Begegnungen mit sich selbst, Erkundungen des eigenen Verhaltens unter wechselnden äußeren Einflüssen. Die Ich-Erzählerin hört immer wieder in den eigenen Körper hinein, registriert Veränderungen, die bisweilen obsessiven Charakter gewinnen. In kurzen Sequenzen geht sie ihrer Kindheit im Erzgebirge nach, wenig später sind wir als Leser mit ihr am Leipziger Nachthimmel und bei der Frage, warum die imaginierte Fee ihr nur einen Wunsch zugesteht
»Ein Durcheinander, altes Mobiliar, abgelegtes Zeug, halbherzige Pläne, ängstlich zerknautschte Kissen, aufgegebene Lebensentwürfe, schnell verworfene Abenteuer, in jeder Ecke ein Gewissensbiss.« Trotz des ruhigen Erzählflusses von Angela Krauß wirkt das gesamte Arrangement unaufgeräumt – die Wohnung im Kleinen ebenso wie die Biografie der Hauptfigur im Großen. Die Protagonistin erkennt und registriert, verharrt aber in einer beinahe eisig wirkenden Starre. Eine bleierne Lethargie scheint den kleinsten Anflug von Veränderungswillen überwältigt zu haben. »Der Mensch merkt auf. Er spürt, es bleibt etwas ungesagt: Wir leben im Ungewissen.«
Angela Krauß‘ hochpoetischer Band nimmt uns mit auf eine assoziative Gedankenreise – unaufdringlich und leise, ein Büchlein zum innehalten, zum entschleunigen und selbsterkunden. Wie fast immer bei Angela Krauß: poetisch und ein wenig absurd, geheimnisvoll und verspielt.
Titelangaben
Angela Krauß: Das Weltgebäude muss errichtet werden. Man will ja irgendwo wohnen.
Berlin: Suhrkamp 2024
111 Seiten, 20 Euro
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