/

Ein Männlein (break)danct im Walde

Bühne | Show: Flying Hänsel und Gretel

1857 nahmen die Gebrüder Grimm »Hänsel und Gretel« in ihre Sammlung »Kinder- und Hausmärchen« auf. Engelbert Humperdincks musikalische Interpretation wurde 1893 in Weimar uraufgeführt, es handelt sich um eine spätromantische Oper in drei Akten. Davon inspiriert übersetzen die »Flying Steps« und Christoph Hagel die Geschichte mit Elementen aus Breakdance, HipHop und Rap in unsere Zeit.
ANNA NOAH ist gespannt auf die Umsetzung.

Moderne Versuchungen

»Junge Menschen verspüren heute einen Hunger nach Aufmerksamkeit und nicht nach Süßem«, sagte der Regisseur und »Flying Steps«-Gründer Vartan Bassil in einem Interview für die Berliner Zeitung. Es läge nahe, die Verführung des Lebkuchenhauses durch die Macht von Social Media zu ersetzen.

In dieser Darbietung verlaufen sich die Geschwister Hänsel und Gretel also nicht in einem echten Wald, sondern im Social-Media-Dschungel. Die Hexe ist eine Influencerin, die die Heranwachsenden mit TikToks ködert und sie im Labyrinth von Instagram und Facebook gefangen hält. Vom LED-Screen mit extrem liniendominierten Schwarz-Weiß-Bildern bis hin zu den kaum vorhandenen Kostümen wirkt die Bühne trotz ihrer Einfachheit wie eine Märchenwelt, in der die jungen Menschen alles sein können – die Hexe hat ein leichtes Spiel, der digitale Käfig muss dabei nicht einmal verschlossen werden, denn die Jugendlichen bleiben freiwillig.

Doch was passiert, wenn die Followerzahl sinkt?

Altes Märchen, neue Tricks

Der Ausgangspunkt bleibt das Klassische der Märchenoper sowie der Kern des Märchens; dies zeigt sich bedeutungsvoll im Spannungsfeld zwischen Rap und Oper sowie in der Fusion von Ballett und Breakdance. Daraus folgt eine einzigartige Synthese, in der – wie in den Shows der »Flying Steps« üblich – die Extreme sich elegant berühren. Die Bühne wird mehrfach zu einem rasanten Instagram-Reel.

Ein absolutes Highlight der Darstellung war die nahtlose Integration von Oper und Rap, nicht zuletzt durch Christoph Hagel am Klavier und den zwei klassisch ausgebildeten Sänger:innen. Eine nicht so gewöhnliche Kombination, die überraschend gut funktionierte und der altüberlieferten Geschichte die gewollte, moderne und vor allem dynamische Dimension hinzufügte. Die musikalische Vielfalt hielt das Publikum in ihrem Bann.

Bei der tänzerischen Interpretation setzte diese Show viel auf körperlichen Ausdruckstanz, der manchmal mit den spektakulären Breakdance-Moves konkurrierte. Die reduzierte Anzahl der Tänzer:innen und der Fokus auf Ausdruck verliehen der Aufführung jedoch eine weitere Ebene, die dem Märchen neben dem Social-Media-Hauptthema einige neue Facetten hinzufügte.

Am Ende kam die gesamte Crew noch einmal richtig in Schwung und zeigte bemerkenswert, warum sie zu den Besten ihres Fachs gehören. Diese finale Performance ließ absolut keine Wünsche offen und es gab sogar mehrere Zugaben mit stehendem Applaus. Insofern haben die »Flying Steps« erneut ihre kreative Brillanz unter Beweis gestellt und bewiesen, dass klassische Geschichten auch in modernen, eher urbanen Ausdrucksformen neu und spannend erzählt werden können.

Interaktive Magie

Ein bemerkenswerter Aspekt ist, dass die »Flying Steps« es immer wieder schaffen, das Publikum zu integrieren. Wie auch in den anderen Shows »Flying Illusion« und »Flying Pictures« brach die Distanz zwischen Bühne und Publikum völlig weg. Man fühlte sich nicht wie ein Mensch, der in einem noblen Ambiente saß und auf eine Bühne schaute. Stattdessen entstand eine intime Atmosphäre, die es ermöglichte, die Darbietung auf eine ganz persönliche Art und Weise zu erleben.

Hervorzuheben ist die Art und Weise, wie die »Flying Steps« interaktive Elemente in ihre Shows integrieren. Durch geschickte Inszenierung wird das Publikum in das Geschehen einbezogen, sei es durch direkte Ansprache oder visuelle Effekte. Diese Elemente sorgen dafür, dass jeder Moment der Show lebendig und dynamisch bleibt. Die emotionale Bindung, die dadurch entsteht, macht das Erlebnis besonders intensiv. Man spürt förmlich die Energie und Leidenschaft der Tänzer:innen, die von der Bühne auf das Publikum übergeht. Das Gefühl der Zusammengehörigkeit wird verstärkt und eine unvergessliche Erinnerung geschaffen. Dies ist ein zentraler Bestandteil ihres Erfolgs.

Crossovering Humperdinck

Die »Flying Steps« haben mit ihrer Aufführung »Flying Hänsel und Gretel« erneut bewiesen, dass sie meisterhaft verschiedene Kunstformen miteinander verbinden können. Eine Verschmelzung der Tanz-Elemente hat geklappt und zeigt die Vielseitigkeit der Tänzer:innen. Zum Beispiel fügten sich die Bewegungen diverser Shuffledance-Elemente ebenfalls nahtlos in die eher akrobatischen Elemente des Breakdance ein. Couragiert haben sich die »Flying Steps« eines Klassikers angenommen und ihn in ihre ganz eigene Tanzsprache übersetzt. Mit dieser Aufführung erweiterten die Darstellenden nicht nur die Grenzen des Tanztheaters, sondern zeigten, wie vielseitig und ausdrucksstark Bewegungen miteinander sein können.

Dementsprechend spiegelte die Choreographie sowohl die mystischen Elemente des Märchens als auch die lebendige Energie des urbanen Tanzes wider. Obwohl einige Zuschauende vielleicht die gewohnten, schnellen Breakdance-Choreographien mit mehreren Tänzern gleichzeitig vermissten, überzeugte die Aufführung durch ihren ganz eigenen Charme.
Es bleibt spannend, welche kreativen Projekte die »Flying Steps« in Zukunft noch auf die Bühne bringen werden.

| ANNA NOAH
| Fotos: FLYING STEPS

Titelangaben
Flying Hänsel & Gretel
Social Media frisst eure Kinder

Termine
20.07.2024 Weissach, Weissacher Dorf Sommer
13.09.2024 AT – Wien, Stadthalle
14.09.2024 AT – Graz, Messe-Congresshalle
09.10.2024 AT – Salzburg, Salzburgarena
11.10.2024 AT – St. Pölten, VAZ
12.10.2024 AT – Linz, Designcenter
17.12.2024 Berlin, Berliner Dom

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Leben im Ungewissen

Nächster Artikel

Leben

Weitere Artikel der Kategorie »Bühne«

»Wir haben doch noch uns«

Bühne | Hans Fallada: Kleiner Mann – was nun Was gibt es Schöneres als ein junges Glück? In Zeiten der Not erwärmt es einem das Herz, doch das Geld darf nicht ausbleiben, denn sonst hat der Muckel nichts zu essen. Von MONA KAMPE

Keinen König, keine Helden mehr!

Bühne | Iphigenie auf Tauris – Staatstheater Karlsruhe Der Schwerpunkt liegt auf der Betonung der Weite des Meeres und der Sehnsucht nach Freude und einem Zuhause. Deshalb sind die 19 Gestrandeten, Asylbewerber aus den Gemeinschaftsunterkünften in Karlsbad-Ittersbach und Rheinstetten, ins Stück integriert. Das wirkt nicht deplatziert, sondern integriert sich bestens ins Stück. Von JENNIFER WARZECHA

Dit is Berlin

Bühne | Kabarett: 31. Geburtstag der Berliner Kabarett Anstalt Es war ein bunter Eindruck ihres Gesamtprogramms, was die ›Berliner Kabarett Anstalt‹, kurz BKA, zu ihrem 31. Geburtstag in Form kurzer Szenen-Einblicke auf die Beine – und Bühne – stellte. ANNA NOAH über eine vielseitige und interessante Revue.

Das Elbe vom Ei

Bühne | Hart gekochtes Improvisationstheater am Ernst Deutsch Theater Hamburg »Was du hier siehst, hat es so noch nie gegeben … und wird so auch nie wieder passieren!« Es verspricht, ein urkomischer, einmaliger, hochkreativer Abend zu werden. Denn niemand weiß, welch verrückte Ideen in den gespannten Zuschauerköpfen herumgeistern. Nicht nur MONA KAMPE war extremely amused.

Was die Gitterstäbe spiegeln

Bühne | Woyzeck im Theater das Zimmer Hamburg

Einsamkeit. Stille. Dunkelheit. Kann das einen jungen Mann in den Wahnsinn treiben? Oder ist es nicht der Raum, sondern die Zeit und ihre Geschichte, die ihn einholen? Von MONA KAMPE