Martin Walser, der Grandseigneur der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, schreibt unaufhörlich und mit einer bewundernswerten Energie. Noch immer gibt es jedes Jahr ein neues Büchlein aus der Feder des Großmeisters vom Bodensee, der am 24. März seinen 94. Geburtstag gefeiert hat. Von PETER MOHR
Keine ausufernden Romane mehr, wie er sie früher geschrieben hat (Die Verteidigung der Kindheit, Ein springender Brunnen, Der Lebenslauf der Liebe oder Muttersohn), keine politisch-gesellschaftlich brisante Prosa (wie Finks Krieg und Tod eines Kritikers), keine provozierenden Essays: Seit einigen Jahren hat sich Walser literarisch zurückgezogen auf aphoristisch-assoziative Texte mit autobiografischem Background. Oftmals sind es Gedankensplitter mit selbst be- und hinterfragendem Charakter.
Nur selten kommt der polternde und mit Gott und der Welt hadernde Walser im neuen Bändchen noch zum Vorschein, etwa als er über die Macht der Medien und deren Glaubwürdigkeit sinniert. Ansonsten dominiert in den kurzen, oft fragmentarisch daher kommenden Textbröseln ein versöhnlicher Tonfall. Walser scheint seine Sätze bisweilen in ein Honigbad zu tauchen, zuckersüß soll es klingen – auch, wenn er über Alter, Tod, über Krankheiten und Veränderungen in der Natur schreibt. Der Untertitel dieses Bandes (»Wahr ist, was schön ist«) ist mehr als nur eine vage Fährte.
»Mir sagt die Amsel, was ich wissen will. Du brauchst keine Vergangenheit, sagt sie, Zukunft genügt. Wem, wenn nicht der Amsel, darf ich glauben«, heißt es im Band, und der 94-jährige Walser reklamiert da für sich (beinahe trotzig) einen Funken Resthoffnung und eine nicht zu leugnende Neugier auf das, was der nächste Tag bringt. »Steh mit dem Rücken zur Gegenwart, im Garten verglüht meine Geschichte.«
Demgegenüber stehen Gedanken über den körperlichen und geistigen Verfall, jenen Zustand, den Philip Roth einmal mit den Worten »Das Alter ist ein Massaker« beschrieben hat. »Zuerst zieht man sich Krankheiten zu, dann zieht man Ärzte hinzu, dann schickt man die Ärzte wieder weg, um mit den Krankheiten allein zu sein.« Und immer noch scheint Walser sich selbst unter einem gewissen kreativen Druck zu setzen: »Nachts, wenn ich schlafe, könnte ich schmerzfrei arbeiten.«
Im Kontrast dazu stehen viele Momentaufnahmen, in denen sich Walser mit der Natur beschäftigt. Bäume, Vögel (häufig ist es die Amsel), Jahreszeiten, der Wind »als Souffleur«, der Himmel, der das »Licht spazieren fährt«, der Regen, der »dicht und leis: wie Seide« fällt, die »schüchterne Fledermaus« und der »renommierte Fuchs«, der See als »Analphabet« – das fügt sich alles mit den Aquarellen der Walser-Tochter Alissa zu einem eigentlich Walser untypischen, auf Harmonie bedachten Gesamtbild. Die Linien der Aquarelle sind mal geschwungen, mal akkurat geometrisch und enthalten viele Rundungen. Hier ufert nichts aus, es gibt keine Ecken und Kanten in den Bildern. Die auffallend häufig benutzten Pastelltöne drücken Sanftheit aus und wirken ausgesprochen beruhigend auf den Betrachter.
Eingestreut in den Band gibt es auch noch ganz persönliche Zeilen über den verstorbenen Schriftstellerkollegen Rolf Hochhuth und einen Traum, in dem Walser Elvis Presley am Grab seiner Mutter treffen möchte, »singen soll er auf dem Friedhof in Wasserburg«.
Manchmal möchte Walser, der im letzten Sommer mit seiner Ehefrau Käthe das seltene Fest der Gnadenhochzeit feierte, die Welt anhalten und sie schreibend auf den Kopf stellen – allen Gesetzmäßigkeiten zum Trotz: »Abends, wenn es hell wird und auf den Zähnen Vorsicht wächst, sind wir am Zug mit Sprachen voll Lauten des Schweigens.«
Martin Walser wird immer mehr zum Maler der Sprache, er tupft die Wörter mit großer Sorgfalt auf das Papier. Mal entstehen auf diese Weise tiefsinnige, lebenskluge, philosophisch anmutende Zeilen, mal sind es aber auch nur verbal aufgehübschte Alltagsbanalitäten.
»Bewundernd und bewundert/kommt man in die Welt/verachtet und verachtend/verlässt man sie, wenn alles/normal verläuft«, resümiert Walser in der Pose des stets unverstandenen Dichters, der in diesem Band hin und wieder den süßen Worten der Amsel doch nicht zu trauen scheint und »gegen Abend ein Beil nehmen und Schatten hacken« möchte.
Ist das (um noch einmal die Volte zum Untertitel zu schlagen) wahr? Ist das schön? Wer weiß? Es ist aber ganz sicher ein lupenreiner Martin Walser. Eine (gedankliche) Spätlese des Jahrgangs 2021. Nicht süffig und geschmeidig, sondern kräftig und mit lang anhaltendem Abgang.
Titelangaben
Martin Walser: Sprachlaub oder wahr ist, was schön ist
Mit Aquarellen von Alissa Walser
Hamburg: Rowohlt 2021
142 Seiten, 28.- Euro
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