Blick in mexikanische Seele

Roman | Guillermo Arriaga: Das Feuer retten

Ein Buch so schwer wie ein Ziegelstein, so kantig, so grob und hart. Und doch übt dieser opulente Roman aus der Feder des 64-jährigen Mexikaners Guillermo Arriaga einen seltsamen Reiz aus. »Ich habe in meiner Jugend Gewalt erlebt, ich kenne die mexikanische Seele genau und ich glaube, dass wir alle unsere Herkunft nicht leugnen können«, hatte Ariaga, der seine Kindheit in einem der gewalttätigsten Viertel von Mexiko City verbracht hat, kürzlich in einem Interview mit der Wiener Zeitung erklärt. Von PETER MOHR

Arriaga gehört zu den gefragtesten und erfolgreichsten Drehbuchautoren und Romanciers Mittelamerikas. 2005 war er bei den Filmfestspielen in Cannes mit dem Drehbuchpreis ausgezeichnet worden. Der nun in deutscher Übersetzung erschienene Roman Das Feuer retten erhielt 2020 den prestigeträchtigen »Premio Alfaguara de Novela« und rangierte ein Jahr lang auf dem ersten Platz der mexikanischen Bestseller-Liste.

Arriaga zeichnet ein düsteres, von Gewaltexzessen geprägtes Bild der mexikanischen Gesellschaft, in der sich arm und reich immer weiter voneinander trennen. Der Autor kennt beide Pole aus eigenem Erleben, den von horrender Kriminalität und Drogenmissbrauch geprägten Alltag in den Vororten der Metropole und das schillernde Leben der ökonomischen Elite, in die er durch seine kommerziellen Erfolge in der Kunst aufgestiegen war.

Durch das Leben seiner beiden Hauptfiguren, die unterschiedlicher kaum sein könnten, erzählt Arriaga sprudelnd wie ein Wasserfall munter drauf los. »Ich habe keine politische Message und will auch nicht provozieren. Ich will eine Geschichte erzählen«, hatte er im Gespräch mit dem Deutschlandfunk erzählt.

Die aus besten Kreisen stammende, wohlhabende Tänzerin Marina Longines lernt bei einem Auftritt mit ihrer Tanzgruppe im Gefängnis den des wegen mehrfachen Mordes verurteilten Indio José Cuauhtémoc kennen. Nach und nach breitet Autor Arriaga die Lebenswege der beiden Protagonisten vor uns aus. Auf der einen Seite die kunstbeflissene, verheiratete Marina, die sich auch als Mäzenin betätigt, und auf der anderen Seite, der von frühester Kindheit mit brutalster Gewalt aufgewachsene José, der später sogar seinen eigenen Vater tötete.

Arriaga gewährt Einblick in die Drogenkriege, die in der mexikanischen Hauptstadt toben, berichtet von Ausbeutung und Entrechtung der social underdogs (allen voran der Indios) und der ständig wachsenden Gewaltbereitschaft in der Gesellschaft.

Darin bettet er eine sehr sonderbare Liebes- oder Erotikgeschichte ein, denn Tänzerin Marina ist besessen vom Sex mit dem Mehrfachmörder José, mit dem sie sich immer wieder im Gefängnis trifft. Hier prallen im wahrsten Sinne des Wortes Welten aufeinander.

Wir lernen Aufzeichnungen der Gefangenen kennen und nehmen an von Marina initiierten fragwürdigen Resozialisierungsmaßnahmen von Schwerverbrechern teil. Durch Kunst, bis hin zu Creative-writing-Kursen, sollen die Delinquenten geläutert werden.

Arriaga arbeitet hier mit einem ganz starken Kontrastprogramm, stellt Kunst und Schwerverbrecher gegenüber und schleift uns im Stil eines Sprinters mit einem kaum zu bändigenden Erzähltempo durch die Handlung. Eine Art Dauer-Erregtheit prägt die Atmosphäre – mit Puls jenseits der 150 und permanenter Atemlosigkeit.

Darunter leidet bisweilen auch die Sprache. Arriaga hatte erklärt, dass er sich im Original eines Vorort-Slangs von Mexiko-City bemächtigt habe und er diesen für unübersetzbar hält. Auf Sätze wie »ihr Becken begann zu beben« oder »im menstruierenden Einklang zu tanzen lockte die animalischste Seite unserer Weiblichkeit hervor« hätte man gerne verzichtet.

»Ich denke, ein Buch kann veröffentlicht werden, aber es ist niemals wirklich fertig. Wenn man mich ließe, dann würde ich jedes meiner Bücher immer und immer wieder völlig überarbeiten«, hatte Arriaga kürzlich erklärt. An der einen oder anderen Stelle hätte man sich wirklich Korrekturen gewünscht. Das Feuer retten jagt uns durch einen alptraumhaften mexikanischen Alltag. Grob, hart und gnadenlos – keine Nachttisch-Lektüre, ein Roman mit großem Schockpotenzial.

| PETER MOHR

Titelangaben
Guillermo Arriaga: Das Feuer retten
Aus dem Spanischen von Mathias Strobel
Stuttgart: Klett-Cotta 2022
800 Seiten. 28 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Wer sucht, der findet

Nächster Artikel

Max findet einen Schatz: eine neue Freundin

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Terroristenjagd ohne Terroristen

Roman | Franz Dobler: Ein Schuss ins Blaue Zum dritten Mal nach Ein Bulle im Zug (2014) und Ein Schlag ins Gesicht (2016) schickt Franz Dobler seinen Ex-Bullen Robert Fallner auf Verbrecherjagd. Diesmal winkt dem in der Sicherheitsfirma seines Bruders Hans Tätigem sogar eine nicht unbeträchtliche Summe, sollte es ihm und seinen Kollegen gelingen, einen islamistischen Extremisten dingfest zu machen, bevor der größeren Schaden anrichten kann. Aber warum verhält sich dieser Iraker so gar nicht wie ein Terrorist, während sich die Atmosphäre um ihn und seine Beobachter herum von Tag zu Tag mehr mit Fremdenfeindlichkeit auflädt? Von DIETMAR JACOBSEN

Verrat, Intrigen und Gewalt

Roman | Mario Vargas Llosa: Harte Jahre

»Guatemala ist wahrscheinlich eines der schönsten Länder der Welt, aber seine Geschichte, vor allem die republikanische, ist auch eine der gewaltreichsten der Welt. Ich glaube, dass man mit gewisser Berechtigung sagen kann, dass der eindeutig von der CIA organisierte Putsch gegen Árbenz damals die Möglichkeiten eines großen demokratischen Wandels in Lateinamerika stark verringert hat«, erklärte Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa bei der ersten öffentlichen Präsentation seines neuen Romans Harte Jahre in Madrid. Eine Buchbesprechung von PETER MOHR

Österreich ist eine Geisteskrankheit

Roman | David Schalko: Bad Regina

Der Ausverkauf und Niedergang touristischer Destinationen gehören zum Schrecken von Immobilienwirtschaft und Fremdenverkehr. Was passiert mit einem glamourösen Kurort, der zum bröckelnden Lost Place verfällt? Der österreichische Autor und Regisseur David Schalko stimmt einen herrlich morbiden Abgesang auf Bad Regina an. So grimmig, grantelnd und mit sarkastischem Humor, dass selbst Thomas Bernhard seine Freude hätte. Von INGEBORG JAISER

Relikte aus dem Kalten Krieg

Krimi | Oliver Harris: London Underground Nach London Killing (Blessing 2012), dem hochgelobten Debüt des britischen Autors Oliver Harris (Jahrgang 1978), liegt jetzt mit London Underground der zweite Fall für Detective Nick Belsey auf Deutsch vor. Diesmal bekommt es der Mann mit der dunklen Seite seiner Heimatstadt zu tun, muss hinunter in Schächte, geheime Atombunker und vergessene Bahnstationen, um eine Rachegeschichte aufzudecken, die zurückreicht bis in die Hochzeiten des Kalten Kriegs. Spannend, wendungsreich und aktueller, als man denkt. Von DIETMAR JACOBSEN

Venedig, ein Fest fürs Leben

Roman | Hanns-Josef Ortheil: Der von den Löwen träumte

Ein Traum als Leitmotiv, ein Sehnsuchtsort als Inspirationsquelle: Hanns-Josef Ortheils neuer Roman Der von den Löwen träumte versetzt den Leser in das Veneto der 40er Jahre, wo ein depressiver, schon etwas abgehalfterter Hemingway zu neuer Virilität und Schaffenskraft findet. Natürlich sind auch Alkohol und Liebelei im Spiel. Von INGEBORG JAISER