Roman | Hanns-Josef Ortheil: Der von den Löwen träumte
Ein Traum als Leitmotiv, ein Sehnsuchtsort als Inspirationsquelle: Hanns-Josef Ortheils neuer Roman Der von den Löwen träumte versetzt den Leser in das Veneto der 40er Jahre, wo ein depressiver, schon etwas abgehalfterter Hemingway zu neuer Virilität und Schaffenskraft findet. Natürlich sind auch Alkohol und Liebelei im Spiel. Von INGEBORG JAISER
Der letzte Satz aus Ernest Hemingways Der alte Mann und das Meer dürfte wohlbekannt sein: »Der alte Mann schlief und träumte von den Löwen.« Zahlreiche Legenden und Mythen ranken sich um die Entstehungsgeschichte dieser Story, um die wahre Identität des alten Mannes. Was wäre, wenn der Ursprung der Erzählung nicht in Kuba läge und der Traum nicht von Löwen in freier Wildbahn, sondern vom venezianischen Markuslöwen handelte?
Hanns-Josef Ortheil entführt uns in die berühmte Lagunenstadt und lässt seine Romanbiographie um den krisengeschüttelten Hemingway zu einer atmosphärisch aufgeladenen Spurensuche werden. Geschickt verschmelzen authentische Fakten und stimmungsvolle Fiktion, wie in einem flirrenden Tagtraum.
Erlösungsort und Inspirationsquelle
Im Oktober 1948 trifft der fast 50jährige Ernest Hemingway in Venedig ein, noch traumatisiert von den Schrecken des Zweiten Weltkrieges, gelähmt von einer jahrelangen Schreibblockade und gezeichnet von exzessivem Alkoholkonsum – heutzutage würde man wohl einen Burnout diagnostizieren. Begleitet wird der Autor von seiner toughen vierten Ehefrau Mary (»sie ist wendig, munter und trägt kurz geschnittenes, blondes Haar«), einer selbstbewussten Journalistin, die die Eskapaden des großen Meisters mit Großmut zu ertragen weiß. Von ihr wird dieser Venedigaufenthalt maßgeblich unterstützt: Der Ort soll für eine Auszeit, für Gesundung und Neuorientierung stehen.
Doch Hemingway – der damals wohl bekannteste Schriftsteller der Welt – kann sich auch in Venedig kaum des Medienrummels entledigen. Nur ein Zusammentreffen glücklicher Umstände verschafft ihm wieder Luft: die erfrischende Freundschaft zu einem sechzehnjährigen Fischerjungen, der fortan als Führer und Inspirationsgeber agiert, eine folgenschwere Begegnung mit der bildhübschen Adligen Adriana Ivancich und nicht zuletzt der Umzug vom mondänen Hotel Gritti in die abgeschiedene Locanda Cipriani auf der Insel Torcello.
Erst hier findet Hemingway, der Großstädte hasst und vorzugsweise in Meeresnähe wohnt, die notwendige Ruhe, um zum produktiven Schreiben zurückzukehren. Endlich scheint der Bann gebrochen. Der mehr oder weniger verbürgte Rest bewegt sich zwischen Literaturgeschichte und Kolportage. Hemingway verfällt in einer peinlichen Amour fou der blutjungen Adriana, so dass selbst Ehefrau Mary um Contenance zu ringen hat. Und: Über den Fluss und in die Wälder – der nach langer Schreibhemmung entstandene Roman – wird von der Kritik glattweg verrissen. Doch vielleicht befindet sich längst ein nobelpreisverdächtiges Jahrhundertwerk in der Pipeline?
Lektüreverführer
Hanns-Josef Ortheil stöbert hinter den bekannten Kulissen Venedigs manch versteckten Winkel auf und stattet seinen Hemingway mit geradezu liebenswerten Zügen aus. Hinter dem Alkoholiker und notorischen Macho tritt ein ruhesuchender, zuweilen nachdenklicher Feingeist und Connaisseur zutage. Auch Ironie blitzt durch: »Woran arbeiten Sie gerade, Mister Hemingway?«, fragte der Barista, und er schaute etwas zur Seite, als er ruhig antwortete: »An meiner vierten Ehe. Gar nicht so leicht, so etwas hinzubekommen, sage ich Ihnen.« Geradezu rührend wirken jene Momente, in denen sich der arglose Fischerjungen Paolo zur eigentlichen Muse Hemingways entwickelt. Ortheil erzählt diese Szenen im bekannt bedächtigen Duktus, mit großer Ruhe und Hang zum Detail. Natürlich fließt jede Menge Lokalkolorit mit ein: Valpolicella, Risotto nero und wilde Entenschwärme über der Lagune. Man glaubt schon, die Verfilmung des Stoffes zu erahnen.
Wer die Chance hat, Hanns-Josef Ortheil auf einer Lesung aus Der von den Löwen träumte zu erleben – so wie im komplett ausverkauften Stuttgarter Literaturhaus, wo der Autor Ende Januar frisch, wohlauf und in bester Plauderlaune aufgetreten ist – mag interessante Einblicke in das »Making of« gewinnen. Angefangen von einer frühen Prägung durch die Nick-Adams-Stories, (einem Geschenk des Vaters an den jungen Hanns-Josef) bis hin zum gelungenen Schachzug des passionierten Venedigkenners Ortheil, sich selbst in der Locanda Cipriani einzumieten, um so dem Genius Loci und den (zuweilen geflunkerten) Zeitzeugenberichten möglichst nah zu sein.
Wie ergreifend muss es sein, im Bett des großen Meisters zu schlafen, an seinem Schreibtisch zu sitzen und über die Lagune zu blicken? Auch wer als Leser nur in Gedanken mitreist, wird sich zur erneuten Hemingway-Lektüre mehr als verführt fühlen.
Titelangaben
Hanns-Josef Ortheil: Der von den Löwen träumte
München: Luchterhand 2019
349 Seiten. 22.- Euro
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| Ingeborg Jaiser über Hanns-Josef Ortheil in TITEL kulturmagazin